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Ein Philosoph wider Willen

    2024-12-10
    Zeit zum Lesen 5 min
    Vor 60 Jahren erschien Stanisław Lems Essayband „Summa technologiae“, in dem sich der Schriftsteller seinen Themen erstmals philosophisch zu nähern versuchte. Diese und andere Texte des vortrefflichen Science-Fiction-Autors sind im deutschsprachigen Raum aus Mangel an guten Übersetzungen lange ohne große Wirkung geblieben.

     

    Neben „literarischen Schwergewichten“ wie Witold Gombrowicz oder Czesław Miłosz gehört Stanisław Lem zu den meistgelesenen polnischen Romanciers seiner Zeit. Lems „Sterntagebücher“ sind nach wie vor hochaktuell und werden im Westen als eine Gipfelleistung der Science-Fiction-Literatur angesehen. Seine Texte sind weder verstaubt noch allzu verschlüsselt, im Gegenteil.

    Stanisław Lem kam am 12. September 1921 in Lwów zur Welt. Die heute zur Ukraine gehörende Stadt galt damals als eines der kulturellen Zentren der Zweiten Republik Polen, die günstige Bedingungen für die Entfaltung einer lebendigen und den europäischen Einflüssen gegenüber aufgeschlossenen Literatur bot. In den Texten der Lemberger Autoren dominierten häufig universelle, philosophische und naturwissenschaftliche Motive, die den Medizinstudenten Lem nicht unbeeindruckt ließen. Außerdem war er durch den Einfluss der Familie politisch und kulturell sehr aufgeweckt. Der antikommunistische Lyriker Marian Hemar war sein Cousin. Der Einmarsch der Roten Armee sowie die spätere Besetzung Lembergs durch deutsche Truppen behinderten Lem an der Fortsetzung der akademischen Ausbildung. Einige seiner Verwandten wurden in Konzentrationslagern ermordet.

    Hochintelligent und einfallsreich


    Nach dem Krieg lebte Lem in Krakau, wo er sich zunächst weiterhin der medizinischen Forschung verschrieb. Dem hochintelligenten Wissenschaftler wurde zu dieser Zeit allerdings auch schon literarisches Talent bescheinigt. Seine ersten Prosastücke errangen Achtungserfolge, wurden aber wegen der Zeitumstände lediglich am Rande wahrgenommen bzw. in ihrer Bedeutung unterschätzt. Schwierige Erfahrungen mit den Stalinisten durchzogen fortan die Biografie eines heranreifenden Autors, der zwar in der Volksrepublik zu bleiben gedachte, sich jedoch für die „innere Emigration“ entschied. Auch war Lem im Gegensatz zu anderen Schriftstellerkollegen nicht darauf erpicht, seine Erlebnisse und Leiden im Zweiten Weltkrieg schriftlich zu fixieren. Zumindest nicht direkt.

    Ausgezeichnete Kenntnisse in Physik, Chemie und Philosophie ließen Science-Fiction zu der von ihm bevorzugten Literaturgattung werden. In seinem ersten Roman „Die Astronauten“ (1951) stellt Lem in einem souveränen auktorialen Spiel mit seinen Helden grundlegende philosophische Fragen, die das Problem der Konfrontation des Verstands mit der Welt der Materie umkreisen. Schon zu dieser Zeit interessiert er sich für die teilweise dehumanisierenden Folgen des technischen Fortschritts und entpuppt sich als einfallsreicher Visionär. In dem Erzählband „Kyberiade“ (1961) sowie dem Roman „Die Stimme des Herrn“ (1968) warnt Lem in vielen anspielungsreichen Passagen vor einem uneingeschränkten Vertrauen auf die Entwicklung einer virtuellen Realität und vor Phänomenen, die wir heute vermutlich als „hybride Bedrohungen“ bezeichnen würden. Sein mehrfach verfilmter Roman „Solaris“ (1961) untersucht die moralische Verantwortung des Menschen im Weltall. Das hauptsächliche Thema seines wohl bekanntesten Werks ist jedoch weniger die Begegnung des Protagonisten mit einer unbegreiflichen Lebensform, als eine Auseinandersetzung mit sich selbst, eine qualvolle Annahme des Unvermeidlichen.


    Verzweifelte Zensoren


    Diese zum Teil komplexen metaphysischen Fragen und universellen ontologischen Dilemmata waren für den ehrgeizigen Schriftsteller Fluch und Segen zugleich. Daheim von der sozialistisch geprägten Wissenschaft missachtet, von patriotischen Exilanten wiederum als „zu passiv“ verunglimpft, schmückten Lems Bücher in Paris, London und New York die Vitrinen unzähliger Buchhandlungen. Dabei waren seine Märchenallegorien und philosophischen Kurzgeschichten alles andere als unpolitisch. Stanisław Lem wählte bewusst eine Gattung, die zwar offiziell keinen politischen Strömungen ausgesetzt war, an der die Zensoren in Warschau aber dennoch verzweifelten. Konzessionen mussten in Polen nicht unweigerlich mit Kapitulationen einhergehen, zumal der Intelligenzunterschied zwischen den Machthabern und dem begnadeten Autor aus Krakau eklatant war. Darüber hinaus haben sich während des polnischen „Tauwetters“ bereits literarische Gegenbewegungen abgezeichnet, die der stalinistischen Kulturpolitik ablehnend gegenüberstanden. In den 1960er Jahren kam es folglich zunächst zu zaghaften und getarnten, später auch offenen und stürmischen Revolten gegen die Marionetten von Moskaus Gnaden.

    Das Science-Fiction-Genre bot in diesem Zusammenhang eine Vielzahl an kreativen Möglichkeiten, politische Botschaften derart zu verschlüsseln oder allgemein zu formulieren, dass die Zensur keinen Einspruch erhob. Es entstand so etwas wie ein „geheimer Bund“ zwischen Lem und seinem heimischen Publikum, das auf eine Lektüre „zwischen den Zeilen“ angewiesen war. In einem Land, dessen Literatur zumeist mehr Pflichten als Freiheiten hatte, hatte dies bereits jahrhundertlange Tradition. Unter den Zensoren fanden sich allerdings nicht wenige enttäuschte und gescheiterte Literaten, die sehr wohl die Absicht des Autors fehlerlos errieten, jedoch gleichzeitig wussten, dass die Partei auf bekannte Schriftsteller angewiesen war. Nicht selten waren sie auch verkappte Regimekritiker, die insgeheim antitotalitaristische Tendenzen tolerierten. Wenn die Texte für die Zensoren allzu verschlüsselt gewesen wären, hätten sie übrigens auch nicht von der breiten Leserschaft begriffen werden können.


    Intellektueller Zufluchtsort


    So paradox es klingt, das Ausweichen auf fantastisch-wissenschaftliche Themenbereiche hat den Karriereverlauf von Stanisław Lem im Westen zweifellos begünstigt. Zum einen vermittelten seine Prosastücke und Essays die verheerenden Folgen der kommunistischen Propaganda und zum anderen das Schicksal eines Individuums, das sich zu ihrem Werkzeug degradieren ließ. In Polen diente Science-Fiction ohnehin nur selten der Popularisierung von „Außerirdischen“ und „unbekannten Flugobjekten“, sondern war intellektueller Zufluchtsort für konservative Denker, die aus moralischem Protest gegen einen Unrechtsstaat zur Feder griffen. Nur wenige von Lems Epigonen, unter ihnen Andrzej Sapkowski mit seinen ‚The Witcher‘-Romanen, gelangten später als Fantasy-Autoren zu Weltruhm. Die meisten von uns wurden allenfalls zu Verfechtern des konservativen Gedankens.

    Mögen einige Romane, Erzählungen oder Essays von Stanisław Lem noch als etwas rätselhaft oder unzugänglich erscheinen, so sollten sie möglicherweise auch unter den genannten historischen Gesichtspunkten gelesen, wahrgenommen und inszeniert werden. In den zuweilen abstrakten Handlungsabläufen lassen sich stets verschachtelte Erinnerungsskizzen und Zeitzeugenberichte eines von zwei grausamen Totalitarismen gezeichneten Autors finden. Wobei natürlich deren prophetische Dimension keineswegs außer Acht gelassen werden sollte. Lems Vision von einer Verbreitung multimedialer Information über ein weltweites Netz hatte den Literaturkritikern im Jahr 1956 noch ein müdes Lächeln abgerungen. Heute wissen wir: Die Entfaltung einer solchen Kunst verlangte damals nicht nur präzise Kenntnisse im Bereich der noch jungen Kybernetik, sondern gleichermaßen Scharfsinn und Intuition, ebenso wie ein Gespür für raffinierte optische Metaphern. In Zeiten der heutigen Informations- und Reizüberflutung (auch dies hatte Lem vorhergesagt) sollten wir einigen Trost aus dem Bewusstsein beziehen, dass es nie zu spät ist, Lerndefizite aufzuarbeiten. Fangen wir mit Lems philosophischen Essays an.

     

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