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Pan Tadeusz – ein mahnendes Zeugnis des Zerfalls

    2024-08-26
    Zeit zum Lesen 8 min
    Mit dem vor 190 Jahren erschienenen Versepos „Pan Tadeusz“ hatte Polens bekanntester Dichter Adam Mickiewicz einen wunden Punkt berührt. Das Werk ist gesättigt mit Details über die brutale Realität unter russischer Fremdherrschaft, verweist jedoch ebenso auf Risse innerhalb der polnischen Gesellschaft. Mickiewicz versetzt seine Leser über weite Passagen in das Bewusstsein eines kritischen Beobachters, der vor einer Spaltung seiner Nation in zwei sich unversöhnlich gegenüberstehende politische Lager warnt.  

     

    Als das Nationalepos „Pan Tadeusz“ im Sommer 1834 in Paris erschienen war, bezeichnete ein enger Freund des Autors dessen Werk als „einen Grabstein des alten Polen, von der Hand eines Genies gesetzt“. Dieser Satz ist nur zur Hälfte richtig. Adam Mickiewicz war in der Tat ein Genie. Seine Intelligenz, Bildung sowie die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hochgeschätzte Improvisationsgabe verliehen ihm besondere Anziehungskraft. Verfehlt erscheint die Feststellung, dass wir es mit einem „Grabstein“ zu tun hätten, der das Ende einer Entwicklung suggeriert. Ins Leere zielt ebenso die von vielen Lesern geteilte Meinung, „Pan Tadeusz“ trüge nicht zu einem besseren Verständnis politischer Zusammenhänge bei, weil sich sein Schöpfer auf eine „literarische Insel“ begeben habe, wo er „vor dem Lärm Europas die Tür hinter sich zuziehen konnte“. Im Gegenteil: Mickiewicz hält uns Polen den Spiegel vor, gerade heute. Die vor drei Jahren verstorbene Kulturhistorikerin Maria Janion konstatierte einst zutreffend, dass der polnische Dichter seinen Text in einer Zeit abfasste, in der seine Landsleute „keinen Gefallen aneinander fanden“. Das stimmt, nur könnte man noch hinzufügen, dass sich die politischen Stammeskämpfe seitdem kaum verändert haben.

    Übernationales Gewicht


    Hauptthema bei Mickiewicz bleibt stets der Kampf um die nationale Befreiung seines Landes. Vergegenwärtigen wir uns noch einmal die Situation vor über 190 Jahren: Preußen, Österreich sowie Russland haben Polen zerschlagen und untereinander aufgeteilt, doch die überwiegende Mehrheit des Volkes hat die Wiedererrichtung des Staates als Ziel aller nationaler Bestrebungen nie aus dem Auge verloren. Die Polen brauchten lebende Sinnbilder, die ihren Befreiungskampf verkörperten. Ihre Sehnsüchte konnten jedoch weder Staatsmänner noch Feldherren ausdrücken, sondern Schriftsteller. Adam Mickiewicz wurde dabei eine fast schon religiöse Autorität zuerkannt, weil er nationalen Problemen ein übernationales Gewicht zu geben vermochte. Und dies, obwohl er nach dem gescheiterten Novemberaufstand von 1830/31 seine literarische Arbeit unter erschwerten Bedingungen im französischen Exil fortsetzen musste. Auch andere bedeutende polnische Intellektuelle und Künstler emigrierten in verhältnismäßig jungem Alter und kehrten nie nach Polen zurück. Hinzu kommt, dass Mickiewicz zwar im Ausland die Politik der europäischen Großmächte frei und unverblümt kritisieren durfte, in seiner Heimat indes auf die Zensur Rücksicht zu nehmen hatte. Um dennoch schreiben zu können, was er schreiben wollte, musste er zur Verschlüsselung Zuflucht nehmen. Als „Pan Tadeusz“ im Jahr 1858 erstmals auf ehemals polnischem Boden (in Toruń) gedruckt werden durfte, haben die meisten Polen bereits die Pariser Ausgabe gelesen und „entschlüsselt“.

    „Pan Tadeusz“ ist ein für die polnische Romantik zentraler Text, der bei uns inzwischen zum Inbegriff des literarischen Kanons geworden ist. Aber nur selten wird versucht, politische Gegenwartsbezüge herzustellen. Mickiewicz selbst betrachtete ihn zu Lebzeiten als „relativ unwichtig“, jedenfalls im Vergleich zu seinen beachtlichen publizistischen Einlassungen. Trotzdem entstand ein epochales Werk, dessen Autor in zwölf Büchern den polnischen Alexandriner in einer Weise anwendet, die sich die „Aufklärer“ aus dem 18. Jahrhundert nicht hätten träumen lassen. Die Leistung ist ebenfalls in der variantenreichen, subtil gegliederten und sprachlich vielfältig instrumentierten Darstellung des polnischen Landadels zu sehen. Mickiewicz kehrt hier in das Land seiner Kindheit zurück, das Litauen der Jahre 1811/12, welches noch einige Jahrzehnte zuvor in Union mit dem Königreich Polen Elemente einer Republik auf Basis einer parlamentarisch-konstitutionellen Monarchie besaß. Nun kämpft das einst mächtige Polen um seine Freiheit, beteiligt sich an einigen siegreichen Feldzügen Napoleons und erhält einen Teil der besetzten Gebiete zurück. Mit Segen des französischen Kaisers entsteht das Herzogtum Warschau. Ort der Handlung von „Pan Tadeusz“ ist das Dorf Soplicowo. Das Werk gliedert sich in drei Handlungsstränge, die der Erzähler, der sich unmissverständlich als ein in Frankreich lebender Exilautor zu erkennen gibt, in elegischer Perspektivierung verknotet. Es ist die Geschichte des jungen Tadeusz, eines Erben der Adelsfamilie Soplica, der auf das Gut des Onkels heimkehrt und sich in die junge Zosia verliebt. Vor allem aber geht es um den Streit zwischen den Familienclans Horeszko und Soplica, die sich um den Besitz einer verfallenden Burg streiten.


    Bezugszentrum der Weltgeschichte

    Mickiewicz erschließt im Zuge eines nostalgischen Rückblicks eine Gesamtschau auf die polnische Geschichte des frühen 19. Jahrhunderts und versucht, sie in den gesamteuropäischen Epochenkontext einzubetten. Zum Mittelpunkt der großen historischen Umwälzungen macht er allerdings nicht etwa Paris oder Warschau, sondern einen scheinbar peripheren (und imaginierten) Ort in der Nähe seines Geburtsortes Nowogródek, der heute in Belarus liegt. Die überschaubare Welt des Gutshofes von Soplicowo wird zum tragenden und organisierenden Bezugszentrum der Weltgeschichte. In den Zeiten der napoleonischen Kriege ist Polen bestrebt, sich noch einmal demokratisch zu erneuern und dabei an die Tradition glorreicher Figuren anzuknüpfen. Der Name des Titelhelden geht auf Tadeusz Kościuszko zurück, den Anführer der polnischen Aufstände gegen das russische Zarenreich am Ende des 18. Jahrhunderts, der bereits zuvor im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg auf der Seite George Washingtons gekämpft hatte. Diese historischen Zusammenhänge werden durch gegenwartsbezogene Hinweise auf Napoleon ergänzt. Wir erfahren von dem französischen Aufmarsch, der durch das einstige Polen-Litauen erfolgt und als Vorbereitung für den Beginn des Feldzugs gegen Russland betrachtet wird. Das Jahr 1812 weckte mit der Ankunft der Truppen von Bonaparte die Hoffnung auf eine Beseitigung der russischen Fremdherrschaft, wobei Mickiewicz mit der Gleichsetzung des Kriegsbeginns mit dem Frühlingsanbruch die ohnehin enorme Spannung dieser Epochenwende noch einmal poetisch überhöht. Um schlüssiges Beweismaterial für die Daseinsberechtigung der versunkenen Adelsrepublik vorzulegen, reiht der Autor eine Kette solcher „Frühlinge“ aneinander. Mehrere Verse führen eine Lichtsymbolik und -metaphorik ein, die sich auf den folgenden Seiten weiter entfaltet. Die damalige Aufbruchsstimmung wird sofort spürbar, der drohende Zweifel an der Wirklichkeit gebannt, zumal die späteren, tatsächlichen Ereignisse wohlweislich ausgespart werden. Im Erscheinungsjahr von „Pan Tadeusz“ blickt der in Paris weilende Mickiewicz nämlich schon auf eine für sein Land triste Zeit zurück: Tausende Polen, die mit Napoleon gen Russland zogen, machten auch den Rückzug mit. Ihr Befehlshaber Józef Poniatowski fiel in der Schlacht von Leipzig. Als der Wiener Kongress die neuen Grenzen Europas zog, wussten die Entscheidungsträger nichts mit Polen anzufangen. Man einigte sich schließlich auf ein „Königreich Polen“ unter russischer Kontrolle. In „Pan Tadeusz“ wird teilweise die prekäre Übertragung von literarischer Autorität unter den Bedingungen der Emigration thematisiert. Mickiewicz präsentiert eine ganze Galerie seiner Landsleute, die mit Talent eher geschlagen als gesegnet schon im Exil das eigene politische Bewusstsein für das Zentrum des Universums hielten. In dem Text werden virtuos Versatzstücke der Realität im russischen Teilungsgebiet eingespielt, ohne dass die Handlung allein darauf reduziert werden könnte.  


    Vorgefertigte Pläne


    Mickiewicz blendet in seinem Versepos die anschließende Niederlage Napoleons aus, weil das Ziel auch danach unverändert blieb. Als Fazit seines literarischen Parcours blieb festzuhalten, dass die Restitution eines unabhängigen, republikanischen und sozial gerechten polnischen Staates nach wie vor höchste Priorität hatte. „Pan Tadeusz“ diente der Bewahrung der Vergangenheit und öffnete sie auf eine neue Zukunft. Der Text sollte den tatsächlichen Geschichtsverlauf „stilllegen“, um Anknüpfungspunkte für eine alternative historische Ereignisabfolge im Bereich des Machbaren zu erhalten. Er entsprang dem Willen, vorgefertigte Pläne ernst zu nehmen und sie für die Nachwelt aufzubewahren, auch wenn sie einige Jahrzehnte zuvor gescheitert waren, was konkrete Zukunftsvisionen erschwerte. Die Anbindung an realhistorisch verpasste Gelegenheiten, die ehedem in der Verfassung vom 3. Mai 1791 kulminierten, sollte in naher Zukunft noch vollzogen werden, trotz misslungener Aufstände und der antipolnischen Politik der Teilungsimperien. In den zeitnah entstandenen „Büchern des polnischen Volkes und der polnischen Pilgerschaft“ ergänzt Mickiewicz die aufklärerischen Reformimpulse um einen Zukunftsentwurf, der in der Christianisierung der europäischen Politik den Ausweg aus der Misere ersah. Diese Idee sollte er später in den Vorlesungen am Collège de France weiter ausarbeiten. Die Verluste des Exilanten führten bei Mickiewicz allerdings nicht zur Verzweiflung oder Weltverneinung. Stattdessen ersann er literarische Strategien, um die Hoffnung auf ein souveränes Polen zu erhalten und die Wirren der Epoche auf Distanz zu halten.

    Im idyllischen Soplicowo kann es unterdessen nur ein Happy-End geben. Die einfallenden Russen können vorerst zum Abzug gezwungen werden. Das finale Verlobungsfest von Tadeusz und Zosia ist zugleich ein Versöhnungsfest zwischen den beiden verfeindeten Familien, in dem alle Schichten und Stände zusammenfinden. Der jüdische Schankwirt Jankiel spielt zur Polonaise auf, zu der die gesamte Festgemeinde tanzt und die nationale Einheit zelebriert. Traditionell unvereinbare Haltungen werden überblendet. Kann man Mickiewicz der Idealisierung oder gar einer realitätsfernen Sakralisierung der damaligen politischen Erscheinungswirklichkeit bezichtigen? Nein. Anders als zuweilen behauptet wird, ist die elegische Rückschau in „Pan Tadeusz“ keineswegs nur eine verherrlichende Darstellung des polnischen Landadels. Die Lebenswelt der „Szlachta“ ist teilweise von Korruption, Maßlosigkeit, Rechtlosigkeit und Egoismus durchzogen.

    Zwist und Intrigen


    Adam Mickiewicz und „Pan Tadeusz“ haben in Polen schon für politische Anliegen aller Art herhalten müssen. Aber selten war das Werk so aktuell wie heute. Man könnte annehmen, dass der Dichterprophet schon damals zum „Seismographen“ der gegenwärtigen Situation in seinem Land wurde. Sie erinnert doch sehr an das, was von Mickiewicz durchgespielt wurde: In Soplicowo kommt es zu rücksichtlosen Machtkämpfen zwischen zwei Lagern, die eigentlich für gemeinsame Interessen einstehen sollten. Dabei können sie am Ende offenbar in der Tat für wenige Augenblicke ihre Streitigkeiten vergessen. „Pan Tadeusz“ ist auch als ein Appell zur gemeinsamen Ausgrabung historisch verschütteter Zukunftsentwürfe zu begreifen, anhand derer sich die Aktualität des Textes noch heute ausweisen lässt. Der Sejm gleicht dem Dorf Soplicowo, wo Intrigen und Zwist allgegenwärtig sind. Auch bei Mickiewicz ist eine der beiden Formationen stets nach Europa ausgerichtet, folgt blind den Anweisungen eines vermeintlich „besseren Westens“ und schaut zu, wie hinterrücks über das Schicksal Polens entschieden wird. Der Titelheld könnte deshalb gleichfalls für Tadeusz Rejtan stehen, der einst als einer der Wortführer der Konföderation von Bar gegen die von Verrätern im Sejm abgesegnete erste Teilung seines Landes protestierte, diese jedoch nicht mehr zu verhindern vermochte. Dann fiel er in geistige Umnachtung und beging Selbstmord. Wie würde er sich heute wohl verhalten? Würde er im „gemeinsamen Europa“ auf untrügliche Hoffnungszeichen für ein künftiges Leben in Freiheit hinweisen? Oder sich doch vielleicht erneut dass Hemd über der Brust aufreißen? 

     

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