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Wahlverwandtschaft

2023-06-30
Zeit zum Lesen 10 min
Der Krieg in der Ukraine zerstörte den Mythos der Unbesiegbarkeit der russischen Armee. Dieser Mythos, auch wenn er nicht die einzige Grundlage für die Furcht der Europäer vor Moskau und für den Respekt, den Russland in dem „Westen“ genoss, darstellte, war allerdings der Hauptgrund für diese Situation. Ein anderer wichtiger Grund dieses Respekts war die Idealisierung Russlands trotz aller Akte der Grausamkeit und Barbarei, deren in der Vergangenheit und heute noch Moskau sich schuldig macht. Alle Masken fielen, als die Aggression gegen die Ukraine begann. Seien wir doch realistisch und nehmen lieber an, diese Veränderungen sind nicht langzeitig.

 

Früher waren die Anziehungskraft und die weiche Macht Moskaus groß. Russland investierte viel, um sich ein positives Image aufzubauen. Heimlich oder offen zahlte der Kreml große Summen an ausländische Politiker, wie Gerhard Schröder oder zahlreiche österreichische Ex-Kanzler, und investierte in die Verbreitung der russischen Kultur sowie der positiven Meinungen über Russland.

Was Russland dazu verhalf, dieses positive Image zu vermitteln, war die Tatsache, dass die russische Kultur im „Westen“ gut angesehen war. Russische Schriftsteller, wie Dostojewski, Tolstoi oder Puschkin, Gogol, Tschechow, Lermontow, Nabokow und Bunin wurden und werden immer noch bewundert. Ähnlich sieht es bei den russischen Komponisten aus, wie Tschaikowski, Mussorgski und Rachmaninow. Zeitgenössische russische Musiker, wie die Sängerin Anna Netrebko oder der Chefdirigent Waleri Gergijew, waren sehr im Westen beliebt. In den französischen Kurorten, wie Nizza und Biarritz, erinnert man sich gerne an die eleganten russischen Aristokraten. In Baden-Baden wurden Dostojewski usw. nicht vergessen. Der zaristische Despotismus und der düstere Alltag des Lebens in Russland waren immer von untergeordneter Bedeutung. Bis heute dienen sie nur als Hintergrund für den Glanz dieser Werke und für die Tiefen der „russischen Seele“. Es wird angenommen, dass die Verbrechen des Kommunismus mit dem wahren Wesen Russlands eigentlich nichts zu tun haben.

Russland stand Europa näher als Polen und als viele andere mitteleuropäische Länder und Völker, deren Kultur wenig bekannt war, wurden ignoriert und unterschätzt. Okkasionell machte man eine Ausnahme für die polnische Kultur, sie blieb aber trotzdem weit hinter der russischen Kultur und wurde beschrieben als von der Sünde der „Russophobie“, d. h. von diesem ungeliebten polnischen Nationalismus und Antisemitismus, markiert.

Wenn die ausländischen Experten, die sich mit Polen beschäftigen, kein Geheimnis aus ihrer Abneigung machen gegen unsere romantisch-aufständische Tradition, die den Kern unserer Identität bildet, so zeigen sich die Russland-Experten immer bereit alle, sogar die abstoßendsten und grausamsten Aspekte der russischen Identität zu verteidigen.

Die Universitätsabteilungen und die Institute für Slawistik und Osteuropäische Geschichte wurden dominiert von Russlands Kennern und Bewunderern.

Als ich, vor vielen Jahren, an einem Slawistenkongress teilnahm, fragte ich meine deutschen Kollegen, wer sich mit der ukrainischen Sprache und Kultur beschäftigte, wurde ich mit großem Erstaunen zurückgefragt, wieso eine solche „Bauernkultur“ überhaupt als ein Gegenstand des Interesses betrachtet werden konnte. Man nahm ohne zu zögern an, dass Russland als Nachfolger der Kiewer Rus betrachtet werden sollte und seine Expansion nichts anderes als ein gerechtes und legitimes „Sammeln russischer Erde“ wäre. Sogar die Gulag-Literatur sorgte für Bewunderung für Russland, nämlich Bewunderung für seine Verbrechen, seine Leiden und die Größe seiner metaphysischen Dilemmata. Russland erschien als eine Art kollektiver Raskolnikow, der zwar bereit ist alte Frauen mit einer Axt zu erschlagen, macht es jedoch aus lauteren Beweggründen, aus spirituellen Motiven. Er raubt und foltert seine Opfer, tut es aber für einen höheren Zweck. Neulich schrieb die Professorin Ewa Thompson für deliberatio.eu über die Notwendigkeit, die slawische Philologie zu dekolonisieren. Ihr bahnbrechendes Buch „Imperial Knowledge“ erschien schon im Jahr 2000. Allerdings damals störte der offene und aggressive Imperialismus der russischen Literatur und Kultur nur die wenigsten.

Gegenwärtig publizieren die Russland-Experten selbstkritische Artikel. Wir erleben ja eine Zeitenwende und deswegen bemüht man sich, sich an die neue Epoche anzupassen. Gleichzeitig hörte jedoch die Rechtfertigung Russlands nicht ganz auf. Vor kurzem hatte ich die Gelegenheit, das Referat einer deutschen Forscherin über Puschkins „Poltawa“ zu hören, wo sie versuchte ihre Zuhörer davon zu überzeugen, dass tatsächlich Puschkin dem Zar Peter I. kritisch gegenüberstand und allein wegen Zensur musste es unter dem Deckmantel von Schmeichelei verbergen. Unter diesen Umständen dürften wir vielleicht annehmen, dass „Jahrestag von Borodino“, „An die Verleumder Russlands“ und „Vor dem Grab des Heiligen“ Sympathie für die polnischen Unabhängigkeitsbestrebungen ausdrücken.

Russlandversteher gibt es sowohl unter den Linken, die ihre ideologischen Vorfahren, wie Bakunin, Lenin niemals völlig (und Trotski schon gar nicht) verleugneten, als auch unter den Rechten. Putins Russland entzündete die Hoffnung der westeuropäischen Rechten, denn Putin stilisierte sich zum Verteidiger der Normalität und Gegner der extremistischen und revolutionären Tendenzen, die die sozialen Grundinstitutionen umzustürzen und jegliche Normen abzuschaffen suchen. Das beste Beispiel davon ist die Öffnung in Paris, nämlich vor ein Paar Jahren, des Centre Spirituel et Culturel Orthodoxe Russe (Russisch-orthodoxes spirituelles und kulturelles Zentrum). In dem Westen waren viele Personen mit konservativen und rechten Ansichten bereit diesen Erzählungen Glauben zu schenken. Sie bildeten sich ein, Russland könnte, wie zu Zeiten der Heiligen Allianz, die Ordnung in Europa, darunter auch die Ordnung von Werten, aufrechterhalten.

Am wertvollsten, aus russischer Sicht, und gleichzeitig am schädlichsten, aus europäischer Sicht, ist nicht der russische Einfluss bei den extremistischen Milieus, sondern der Einfluss, den Moskau auf die Regierungseliten auswirkt, egal, ob diese Eliten sich als Mitte-rechts oder Mitte-links beschreiben. In Deutschland wurde ein ganzes prorussisches Netzwerk eingerichtet, das sich auf die politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Sphären erstreckte. Erst jetzt berichten davon die Medien.

Kürzlich erschien das Buch „Die Moskau-Connection. Das Schröder-Netzwerk und Deutschlands Weg in die Abhängigkeit“, das über das Ausmaß an russischen Verbindungen in der SPD erzählt.[1] Im heutigen Europa gibt es wahrscheinlich keine andere Partei, die so prorussisch war, wie die SPD. Ein ähnliches Buch könnte jedoch zum Beispiel über die CDU oder über die österreichische ÖVP geschrieben werden. Österreich wurde von den Russen tief infiltriert, wovon Politico und Die Welt vor kurzem berichteten. In Frankreich war die Situation ähnlich.

Russlands Einflussmacht ist jedoch nicht nur finanzieller Natur. Allein durch die historische Rolle Moskaus in Europa, oder durch die russischen kulturellen Errungenschaften, lässt sie sich auch nicht erklären, denn sie hat, darüber hinaus, mit den Schwächen des heutigen „Westens“, den Symptomen seiner Dekadenz, seinen intellektuellen und moralischen Absurditäten viel zu tun. Putins Propaganda erzählt, all diese extremistische Tendenzen seien nichts anderes als typische Erscheinungsformen der „westlichen“ Kultur, sie seien ihr Wesen und ihr charakteristisches Merkmal.

In diesem Punkt sind Putin mit den europäischen und amerikanischen linksliberalen Milieus, sowie mit den heutigen europäischen Eliten einverstanden. Auch sie betrachten alle unkritisch die „progressiven“ Tendenzen als das Wesen der westlichen Kultur. Sie schließen sich der Ansicht des russischen Satrapen und bestreben sich, eine linksliberale Meinungsdiktatur zu errichten und ein Gewaltmonopol in der Europäischen Union zu erhalten.

Verweigert man sich Putin zu unterstützen, so sollen wir – nach ihren Vorstellungen – nicht nur damit einverstanden sein, dass das Prinzip der Einstimmigkeit in der EU abgeschafft wird, dass die Kommissaren Jourová und Reynders Polen regieren und dass das europäische Recht vor dem nationalen Recht der Mitgliedstaaten immer Vorrang hat, sondern auch mit den gleichgeschlechtlichen Ehen, mit der These, dass das Geschlecht von der menschlichen Biologie und Anatomie unabhängig ist, mit der Abtreibung, der Euthanasie, der „offenen“ multikulturellen Gesellschaft, dem Zerfall der Familie und der Nation, mit der Verbesserung der Vergangenheit, das heißt der Fälschung der Geschichte, und schließlich mit der absurden Anthropologie und der Zerstörung der Sprache. Überhaupt muss man all dem zustimmen, was in Brüssel gerade entschieden wurde, und darf die Integrationsprozesse nicht hinterfragen, nicht einmal die radikalsten Ideen der Spinelli-Gruppe.

Was aber den „Westen” von Russland immer unterschiedlich machte, war gerade die westliche Diversität und Meinungsfreiheit, die Vielfalt der Nationaltraditionen. In den 80er Jahren schrieb Milan Kundera in seinem berühmten Essay über das von Russland entführte Mitteleuropa, dass der Unterschied zwischen diesem vergessen Teil Europas und Russland an dem Verhältnis gegenüber der Diversität zu erkennen war: „Mitteleuropa verstand sich als ein kondensiertes Bild Europas in all seinem Reichtum an Vielfalt, als ein kleines äußerst europäisches Europa, ein Miniaturmodell des Europas der Nationen, wo das herrschende Prinzip lautet: maximale Vielfalt auf minimalem Raum. Wie könnte von einem Russland nicht erschrocken sein, das auf einem entgegengesetzten Prinzip beruht, und nämlich: minimale Vielfalt auf maximalem Raum? Und in der Tat konnte für Mitteleuropa und seine Leidenschaft für Vielfältigkeit nichts fremder sein als das einförmige, auf Verbreitung dieser Einförmigkeit bedachte zentralistische Russland, das mit einer gefährlichen Entschlossenheit all die Völker seines Imperiums (Ukrainer, Weißrussen, Armenier, Letten, Litauer usw.) in ein einziges russisches Volk, oder – wie wir heute, in der Epoche der allgemeinen Mystifizierung der Sprache sagen – in ein eigenes sowjetisches Volk verwandeln will“. [2]  

Ein bekannter deutscher Historiker Klaus Zernack schrieb: „Dass Europa in der Gleichrangigkeit seiner großen und kleinen Völker leben kann und muss, das Europäische an Europa“. [3]Heute wurde die Europäische Union von einem Virus infiziert, der dem russischen Virus sehr ähnlich ist, nämlich dem Virus des Imperialismus. Die Union beginnt in dieselbe Richtung zu segeln, wie Russland und bestrebt die Gleichschaltung aller Nationen, um sie in eine einzige europäische Nation umzuformen. Die EU bestrebt sich, ihre Institutionen zu zentralisieren und ein einziges Kulturmodell überall aufzuzwingen. Die von ihr vorangetriebene „Multikulturalität einer offenen Gesellschaft“ ist in der Tat nichts anderes als eine Monokultur, und die einzige Vielfalt, die man toleriert, ist die Vielfalt der sexuellen Neigungen und Verhalten. Manche EU-Kommissare werden immer ähnlicher den Kommissaren, die wir aus der düsteren Vergangenheit kennen, denn sie benehmen sich, wie Wächter der ideologischen Reinheit der Mitgliedstaaten, deren Rechte sie verletzen. Nur einen Schritt trennt die EU von der Verfolgung der Andersdenkende und nationaler Unterdrückung. In manchen Ländern wagte man bereits diesen Schritt.

 


[1] Reinhard Bingener Markus Wehner, Die Moskau-Connection Das Schröder-Netzwerk und Deutschlands Weg in die Abhängigkeit, München 2023.

[2] Milan Kundera, Zachód porwany albo tragedia Europy Środkowej, Zeszyty Literackie, 1984, no. 5.

[3] Klaus Zernack, Zum Problem der nationalen Identität in Ostmitteleuropa, w: Helmuth Berding (Hg.) Nationales Bewußtsein und kollektive Identität 2, Frankfurt a. Main, S. 178

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