Zeitenwende in der deutschen Ostmitteleuropapolitik?
In den letzten fünfzig Jahren hat sich Deutschland zweimal gegen die sicherheitspolitischen Interessen der Nationen Ostmitteleuropas entschieden. Zweimal hat es die machtpolitischen Ansprüche Russlands höher bewertet als die Freiheitsrechte der Völker in dieser Region.
Das erste Mal geschah dies, als man die Solidarność-Bewegung in Polen vor allem als Gefahr für den europäischen Frieden betrachtet hat, das zweite Mal hier und jetzt. Allen Unkenrufen zum Trotz hat sich Deutschland für eine energiepolitische Strategie entschieden, die Putins Russland zum Angriff auf die Ukraine verholfen hat. Nun weigert sich Deutschland auch einen Teil der Kosten dieser Fehlentscheidung zu tragen, indem es ein gemeinsames Embargo auf die Gas- und Öllieferungen aus Russland ablehnt. Konnte man die fehlende Unterstützung der Solidarność-Bewegung noch wohlwollend als Strategie deuten, das hehrere Ziel der Wiedervereinigung nicht zu behindern, verdankt sich die gegenwärtige Weigerung, ein Gas- und Ölimportembargo durchzusetzen, obwohl dies das Sterben in der Ukraine verlängert, rein materiellen Gründen. Man will schlicht den Wohlstand in Deutschland sichern, da ansonsten – so der Wirtschaftsminister ¬- soziale Unruhen und Wettbewerbsnachteile drohen würden.
In einer Gesellschaft, in der seit Jahren jeden Freitag gegen Konsum auf Kosten der Natur demonstriert wird, und in der die Kritik am Wachstumsdrang des Kapitalismus weit verbreitet ist, scheint man nicht bereit zu sein, durch konkrete Konsumeinschränkung tausendfaches Menschenleben zu retten, was umso unverständlicher ist, als die wirtschaftliche Bedeutung Russlands für Deutschland in keinem Vergleich zu derjenigen Ostmitteleuropas steht. Der Anteil Russlands am deutschen Außenhandel betrug 2021 lediglich 2,3%, während z.B. Tschechien bei 3,7% und Polen bei 5,7% lag. Zudem sinkt Russlands Anteil an der Weltwirtschaftsleistung kontinuierlich seit dem Krimkrieg von 2014; und auch technologisch gilt das Land als Verlierer der Globalisierung. Seine Bedeutung als Öl- und Gaslieferant für die EU-Mitgliedsländer hätte ohne die energiepolitische Strategie Deutschlands in den letzten Jahren strukturell reduziert werden können. Deutschland hat jedoch anders entschieden. Es hat nicht nur ausschließlich auf Gas als der wichtigsten Energiequelle für die Übergangsphase zur klimaneutralen Energieerzeugung gesetzt, sondern dabei auch Putins Russland zum Schlüssellieferanten erhoben. Ein besseres Szenario hätte man auch im Kreml nicht entwickeln können. Die Frage, warum man die Klimapolitik in Deutschland auf so zweifelhaften Fundamenten aufgebaut hat, bleibt offen. Die Aufwertung Russlands zum Schlüssellieferanten verwundert umso mehr, als der Vertrag zum Bau von NS2 erst nach der Aggression Russlands auf der Krim abgeschlossen wurde.
Zurzeit wird seitens der deutschen Öffentlichkeit kaum Druck ausgeübt, um Antworten auf diese entscheidenden Fragen zu bekommen. Auch die Abgeordneten des Bundestages, anders als ihre Kollegen und Kolleginnen im britischen Parlament, scheinen kein Interesse an den Hintergründen dieser Entscheidungsprozesse zu haben. Es wäre nicht nur für die politische Kultur in Deutschland wichtig, sondern auch den ukrainischen Opfern gegenüber nur gerecht (und für die sicherheitspolitischen Optionen in Ostmitteleuropa relevant), wenn man wenigstens jetzt untersuchen würde, wer, wann und um welchen Preis für die Interessen der russischen Gasgiganten Lobbyarbeit getrieben hat. Warum z. B. bis vor kurzem in der Printpresse eine solche Einheitsfront zugunsten von NS2 und dem Ausbau der Abhängigkeit vom russischen Gas herrschte, wird nun erst langsam nachvollziehbar, wenn man bedenkt, dass der Springer Verlag seit siebzehn Jahren Gerhard Schröder als seinen Berater beschäftigte.
Statt einer kritischen Auseinandersetzung mit den Grundlagen der bisherigen Politik wird vielmehr eine Deutung des Geschehens angeboten, die die Entscheidungsmechanismen eher verschleiert als offenlegt. Die Schlüsselbegriffe dieser Debatte sind: die Naivität der Eliten, die kollektive Verantwortung des Westens und die Unvorhersehbarkeit der Geschichte.
Es ist fast zum guten Ton in Deutschland geworden, die „Naivität“ der westdeutschen Eliten im Hinblick auf Putins Politik zu beteuern und dabei die Weitsicht der seinerzeit mahnenden Osteuropäer zu loben, deren analytischen Fähigkeiten sich angeblich ihren Erfahrungen aus der Sowjetzeit verdanken. Doch diese Erklärung trifft zum einen nicht auf Ostdeutschland zu: Dort war und ist man noch kritikloser gegenüber Putin als in Westdeutschland. Zum anderen hatten die deutschen und die westeuropäischen Experten in den letzten dreißig Jahren einen viel besseren Zugang und viel engere Kontakte zur wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und politischen Elite Russlands als der Osten, nicht zuletzt wegen der gezielten Politik der Marginalisierung Ostmitteleuropas durch Putin. Will man die „Naivität“ der Deutschen und der Westeuropäer verstehen, sollte man vielmehr den Geldströmen folgen. Nicht ohne Grund hat Putins Regime Milliarden in die europäische Politikszene sowie ins europäische Expertentum investiert. Das systemische Versagen des Expertentums, das in der energiepolitischen Abhängigkeit von Russland kaum Gefahren gesehen hat, muss dringend aufgearbeitet werden, meint man es mit der beschworenen „Zeitenwende“ wirklich ernst.
Der Verweis auf den „Westen“ dient als zweite Nebelkerze. War man in Deutschland vor dem Krieg stolz auf seine besondere Nähe zu Putin und die kurzen Kommunikationswege in den Kreml, wird nun alles dem „Westen“ zugeschrieben. So hören wir in Talkshows, dass der „Westen“ seine Energiequellen nicht diversifiziert habe, dass der „Westen“ von Gas aus Russland abhängig sei und daher der „Westen“ die Gassanktionen nicht wolle. Diese Sprachregelung verwischt nicht nur Verantwortlichkeiten. Sie polarisiert auch nach dem Muster der Migrationskrise in 2015: Die deutsche Position wird als westlich vereinnahmt, die davon abweichenden ostmitteleuropäischen aber als nicht dazu gehörend ausgeblendet. Die Tatsache, dass es bei jeder westlichen Sanktion viel Kraft, Zeit und Mühe gekostet hat, gerade Deutschland hiervon zu überzeugen, spielt bei diesem Deutungsmuster keine Rolle.
Der dritte Begriff - die „Unvorhersehbarkeit“ der Ereignisse - gibt ein besonderes Rätsel auf. Gerade, weil man es in der Wirtschaft dauernd mit Unsicherheiten zu tun hat, „legt man nicht alle Eier in einen Korb“. Nach allen Regeln der Betriebswirtschaftslehre und Prinzipien unternehmerischen Handelns hätte man bei der Gasversorgung als strategischer Schlüsselressource nie und nimmer dermaßen nur auf einen Lieferanten setzen dürfen, heißt er nun Russland oder USA. Es bleibt zu hoffen, dass die deutsche Öffentlichkeit die Antwort auf die Frage erzwingt, wie es zu diesen Fehlentscheidungen kommen konnte.
Nun argumentiert der deutsche Wirtschaftsminister, dass das Veto gegen das Gasembargo Schaden vom deutschen Volke abwenden solle. Ob die unterlassene Hilfeleistung für die Ukraine eine solide Basis zur Sicherung des Wohlstandes sein kann, muss die deutsche Gesellschaft beantworten. Von der Antwort hängt auch die Position Deutschlands als Partner in Ostmitteleuropa ab. Die bisherige Politik, die Europa zu Krieg und Wohlstandsvernichtung – und zwar nicht nur in der Ukraine – geführt hat, müsste zurückgewiesen werden. Gefragt sind nun disruptive Konzepte, die mit den alten Denkmustern brechen. Es stellt sich allerdings eine berechtigte Frage, ob der Wirtschaftsminister nach wie vor von den Expertenkreisen beraten wird, die zum angeblichen Wohle des deutschen Volkes für NS2 geworben hatten. Ob Deutschland zu einer neuen, wirklich disruptiven Strategie in Bezug auf Ostmitteleuropa fähig ist, wird die Zukunft zeigen. Auf jeden Fall ist hierfür der Druck der Gesellschaft auf die Machthaber unentbehrlich.
Der text wurde ursprünglich in der Frankfurter Allgemeine Zeitung nr. 68 veröffentlicht.
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