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Zeitenwende - Wunschdenken oder neue Realität

2023-03-21
Zeit zum Lesen 8 min
Zweifellos ist es dem deutschen Bundeskanzler gelungen, den Begriff der Zeitenwende, der den Beginn einer neuen Ära in der deutschen Sicherheitspolitik nach der russischen Aggression auf die Ukraine markiert, als Schlüsselwort in der internationalen Kommunikation zu etablieren.

Unabhängig von der Einschätzung, ob und inwieweit der Begriff in Bezug auf Deutschland gerechtfertigt ist, trifft er die Veränderungen in Mittel- und Osteuropa auf den Punkt. Einen wesentlichen Beitrag dazu hat Polens Sicherheits- und Außenpolitik geleistet. Aus polnischer Sicht werden die tragischen Ereignisse des Krieges in der Ukraine mindestens durch drei unerwartete Effekte begleitet, die die internationale Position Polens erheblich beeinflussen. Erstens: Zur allgemeinen Überraschung offenbarte sich die moralische Stärke der polnischen Gesellschaft und ihre Fähigkeit zur Selbstorganisation. Zweitens: Auch die Effizienz und Organisationsstärke des polnischen Staates wurden deutlich. Drittens: Polen wurde zum natürlichen, nicht nur deklarierten Anführer derjenigen Staaten in der Region, die die Ukraine aktiv unterstützen wollen. Dieser „polnische Ruck“ im Namen der Solidarität mit der kämpfenden Ukraine hat Polens Einfluss bei der Bestimmung der militärischen Strategie der Nato bezüglich der Ukraine oder bei der Festlegung von Standards für die Behandlung ukrainischer Flüchtlinge in der Europäischen Union gestärkt. Die Ergreifung der politischen und militärischen Initiative hat zwei in der Geschichte Polens eher seltene Effekte zur Folge: Zum einem werden die enormen militärischen und finanziellen Ressourcen des Westens zur Verbesserung der geopolitischen Position Polens eingesetzt, und zum zweiten wurde Polen zu einem unverzichtbaren militärischen Verbündeten des Westens. Die entscheidende Frage lautet nun, wie diese Effekte dermaßen verstetigt werden können, dass Polen zu einem unverzichtbaren Partner beim Aufbau der politischen Ordnung in der Region wird.

Meines Erachtens lassen sich aus den bisherigen Erfahrungen drei Schlüsse ziehen, die für das weitere Vorgehen der polnischen Diplomatie von Bedeutung sind.

Erstens: Es wurde zwar einmal mehr die zentrale Bedeutung der USA für die europäische Sicherheit bestätigt, allerdings ist auch klar geworden, dass die USA allein nicht ausreichen, um diesen Krieg für die Ukraine zu gewinnen. Wie die Debatte um die Lieferung der Leopard-Panzer gezeigt hat, ist für die USA die aktive Beteiligung der westeuropäischen Verbündeten unerlässlich. Deutschland spielt in den US-Strategien eine Schlüsselrolle. Man kann Deutschland zwar Vorwürfe bezüglich des Stils und der Schnelligkeit der getroffenen Entscheidungen machen, diese Äußerlichkeiten sollten aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass sowohl die Regierungskoalition als auch die größte Oppositionspartei den finanziellen und militärischen Beistand der Ukraine und der Ostflanke unterstützen. Die Abkehr von Russland als Energieversorger, die Erhöhung der Rüstungsausgaben, der in der Gesellschaft und in den politischen Eliten in Bezug auf Sicherheitsfragen stattfindende Bewusstseinswandel, die Solidarität mit der Ukraine sowie Mittel- und Osteuropa, die Wahrnehmung gemeinsamer Interessen an der Ostflanke sind allesamt greifbare Ergebnisse der Politik des letzten Jahres, die nicht zuletzt auch dank des Druckes aus Polen und des von Polen vorgegebenen Tempos vonstattengegangen sind. Das vorrangige Ziel besteht nun darin, die westlichen Ressourcen zugunsten der Ukraine weiterhin zu mobilisieren, um die geopolitischen Bedingungen in unserem Teil Europas dauerhaft zu verändern. Die Notwendigkeit, hierfür politischen Druck auszuüben oder langwierige Verhandlungen führen zu müssen, sollte uns nicht irritieren oder entmutigen, wenn dies Milliardenhilfen jedwelcher Art für die kämpfende Ukraine verspricht.

Die Wertschätzung dieser Hilfe ist zweitens umso wichtiger, als die westlichen Gesellschaften in der Frage des Engagements für die Ukraine stark gespalten sind. Sie sind nicht davon überzeugt, dass die Niederlage der Ukraine eine Bedrohung ihrer Sicherheit darstellen könnte. Dass dieser Krieg auch der unsere ist, ist den Polen, Litauern, Letten, Esten oder Finnen sehr bewusst. In den weiter westlich liegenden europäischen Staaten ist die Wahrnehmung des Krieges vielfältiger, die Spaltung der Gesellschaften tiefer und die Bereitschaft zur Unterstützung der Ukraine brüchiger. Dies ist kaum verwunderlich, wenn man bedenkt, dass der Westen seine Sicherheit und seinen Wohlstand mehr als 50 Jahre lang in der Nachbarschaft zu der gegenüber ihren Satelliten repressiven UdSSR aufgebaut hat. Die Erfahrung lehrt diese Gesellschaften sogar, dass es möglich ist, im Schatten eines aggressiven Russlands in Frieden und Wohlstand zu leben. Ein Vorbringen von Bedenken gegen die Ukraine-Hilfe ist kein ausschließlich deutsches Phänomen, wie der Eindruck der Debatte in Polen zu vermitteln scheint. Man kann mit Sicherheit sagen, dass die Meinung, Russland sei ein Opfer der westlichen Politik, sowohl im linken als auch im rechten politischen Spektrum in Europa verbreitet ist, einschließlich Großbritanniens und der USA. Die potenzielle Bedrohung durch Russland verspüren im Westen nur einige wenige, zumal die meisten von einer konventionellen Kriegsführung durch physische Kontrolle von Gebieten ausgehen. Daher ist der Kampf um die Vorstellungskraft der westlichen Öffentlichkeit so wichtig. Es sind schließlich Wähler, die darüber entscheiden, ob Steuern für die Unterstützung der Ukraine fließen werden.

Um das Vorstellungsvermögen der westlichen Gesellschaften anzusprechen, reicht es nicht, vor Russland Angst zu machen. Es ist wichtig, eine positive Botschaft zu entwickeln. Einen guten Bezugspunkt könnte hierfür das Wendejahr 1989 liefern. Man könnte zeigen, wie stark der heutige Kampf der Ukraine für ihre Rechte in der Tradition dieses Umbruchs steht, der für Deutsche, Polen, Balten und für viele weitere ostmitteleuropäische Nationen Freiheit, Sicherheit und Wohlstand gebracht hat. Der damalige Freiheitsschub, verstärkt durch die Mitgliedschaft in der Nato und der EU, hat dazu beigetragen, dass sich der Raum an Sicherheit und Wohlstand in Europa auf weitere fast hundert Millionen Menschen ausgebreitet hat. Eine Fortsetzung dieser Prozesse für die Ukraine, Moldawien, Georgien oder die Balkanstaaten könnte ähnliche positive Auswirkungen haben. Ebenso wie die Mitgliedschaft Polens in der Nato und in der EU für Deutschland ein Mehr an Sicherheit bedeutete, erhofft sich Polen ähnliche Effekte von der Mitgliedschaft der Ukraine in diesen Organisationen.

Drittens: Eine für die westlichen Gesellschaften glaubwürdige Narration sollte auch eine positive Botschaft für Russland enthalten. Die Interpretation dieses Krieges als eine weitere Etappe im Dekolonisierungsprozess liefert hierfür einen guten Argumentationsrahmen. Mit dem Verweis auf die Erfahrungen der westeuropäischen Staaten nach dem Verlust ihrer Kolonien lässt sich überzeugend zeigen, dass die Dekolonisierung keinen Zusammenbruch des Staates und der Nation bedeuten muss, wie dies die russische Propaganda vermittelt. Es ist zweitrangig, wie plausibel diese Argumente für die Russen sind. Wichtig ist, dass sie aus der Sicht eines westlichen Publikums rational sind.

Die angeführten Argumente zielen darauf ab, deutlich zu machen, wie wichtig die narrative "Sicherung der Westflanke" in diesem Krieg ist. Ostmitteleuropa steht vor der Chance, die Entwicklung und Sicherheit in der Region auf neue Gleise zu setzen. Dies kann nicht ohne die Beteiligung der westlichen Verbündeten geschehen. Wir haben zu viel zu gewinnen oder zu verlieren, als dass wir es uns erlauben dürften, im Werben um die Gunst des Westens nachzulassen. Die bisherigen Erfahrungen sind noch dazu ermutigend. Die Wirksamkeit der bisherigen polnischen Politik wurde während der letzten Sicherheitskonferenz in München deutlich. Während Präsident Andrzej Duda und Ministerpräsident Mateusz Morawiecki den westlichen Verbündeten für ihr Engagement dankten, bediente sich der Bundeskanzler Olaf Scholz "polnischer Argumentation", indem er für den Aufbau von Sicherheitsstrukturen in Europa ohne Russland und für die Panzerlieferungen zur Unterstützung der Ukraine geworben hat.

 

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