Heute, am 3. Januar 2023, begehen wir den Geburtstag von J.R.R. Tolkien, geboren am 3.1.1892 und nicht nur einer der beliebtesten englischen Schriftsteller der letzten Jahrzehnte, sondern auch eine immer noch weitgehend unterschätzte Schlüsselfigur der konservativen Erneuerung des Westens. Die Komplexität und der Reichtum von Tolkiens Werk sind immens, und wenn es darum geht, nicht nur die innere Funktionsweise von Tolkiens kreativem Prozeß oder die geistigen und emotionalen Kräfte zu verstehen, die seine literarische Produktion beflügelten, sondern auch die zahlreichen Anspielungen auf die Kulturgeschichte des Abendlands, ist bereits so viel gesagt und geschrieben worden, daß es kaum noch möglich ist, etwas wirklich Substantielles hinzuzufügen. Unsere heutige Absicht ist jedoch viel beschränkter, denn ich möchte mich vielmehr auf einige Sorgen - und Hoffnungen – konzentrieren, was die Zukunft betrifft.
Kein Zweifel: Wer Tolkiens Werk mit zumindest einem Funken Sympathie für die Traditionen und die Geschichte liest, die die Größe des Abendlandes ausgemacht haben, kann sich kaum einer tiefen Faszination entziehen, denn Tolkien ist es gelungen, eine „Subcreation“ zu erschaffen, die die mythopoetische Quintessenz all dessen darstellt, was unsere Zivilisation ausmacht - im Guten wie im Bösen. In der Tat ist Tolkiens Werk viel mehr als nur ein bloßes Medley oder Pastiche verschiedener Erzählstränge; es ist eine einzigartige Neufassung, die alle Traditionen überzeugend als viel spätere Variationen der wahren, „ursprünglichen“ Geschichten, wie sie in seinem eigenen Legendarium enthalten sind, aussehen und empfinden läßt. Tolkien ist es gelungen, das Abendland von Grund auf neu zu erschaffen - aber nicht, indem er unzusammenhängende Bruchstücke mischte und zusammenfügte, wie so viele Autoren der Gattung „Fantasy“, sondern indem er gewissermaßen „von vorne“ begann und eine kohärente alternative Frühgeschichte entwickelte, wobei er die Regeln der rekonstruktiven Philologie systematisch und höchst erfindungsreich auch auf den Bereich des Mythos und der Poesie anwendete. So verwandelte Tolkien rückblickend seine ursprüngliche Absicht, „eine Mythologie für England zu schaffen“, in das viel umfassendere Ziel, eine Welt zu entwerfen, die nicht nur die Wurzeln aller späteren kulturellen Traditionen des Abendlands enthält, sondern auch wichtige Stränge der christlichen Heilsgeschichte vorwegnimmt.
Das Erbe Tolkiens - eine Inspiration und Hoffnung für so viele Generationen von Europäern - ist jedoch in Gefahr: zum einen durch die allmählich abnehmende Lese- und Schreibfähigkeit junger Menschen, die zunehmend von Texten überfordert sind, die länger als ein paar Seiten oder im „hohen Stil“ verfaßt sind; zum anderen durch eben jene Akteure, die vorgeben, Tolkiens Erbe zu verteidigen. Natürlich denkt man hier in erster Linie an die Katastrophe, die die neue Amazon-Serie „Rings of Power“ darstellt, welche praktisch alles, was Tolkien lieb und teuer war, lächerlich macht und entstellt: „Strong independent women“ anstatt Heldinnen, die um die Definition ihrer eigenen Weiblichkeit kämpfen; ethnische Vielfalt in einem Universum, das explizit auf das alte Nordwesteuropa zugeschnitten ist; unpersönliche Charaktere, die sich von den komplexen, überlebensgroßen Helden des Silmarillions völlig unterscheiden; billige Hit-and-Run-Erzählungen statt der typisch Tolkien‘schen Synthese zwischen nordischer Tragik und christlicher Eukatastrophe; und so weiter. Schon der „Hobbit“ war ein gefährlicher, wenn auch zumindest teilweise liebenswerter Versuch, Tolkien umzuschreiben und irgendwie zu „vervollständigen“, indem man sein Werk an den Erzählkanon des modernen Hollywood anpaßte - aber im Vergleich zu Peter Jacksons zweiter Trilogie ist „Rings of Power“ eine reine Abscheulichkeit.
Das Problem liegt dabei allerdings nicht nur in der mißbräuchlichen Verformung des Legendariums als solchem, sondern vielmehr in ihren Auswirkungen auf die moderne Jugend, die Tolkien fortan größtenteils nur noch mit den Filmen in Verbindung bringen wird und entweder nicht willens oder nicht in der Lage sein wird, seine Bücher von vorne bis hinten zu lesen - oder die von ihrer neuesten filmischen Adaption so abgeschreckt werden wird, daß sie seine Bücher ohnehin nicht mehr aufschlagen will: Mit der offensichtlichen Ausnahme von Jacksons „Herr der Ringe“ werden die neuen Verfilmungen Tolkien wahrscheinlich mehr schaden als nutzen. Und was den größten Teil der modernen Tolkien-Forschung betrifft, die sich auf immer irrwitzigere Fragen wie die nonbinäre Beziehung zwischen Sam und Frodo, Tolkiens angebliche Xenophobie oder die Notwendigkeit einer feministischen Lektüre des Silmarillions zu beschränken scheint, so wollen wir darüber lieber den Mantel des Schweigens breiten...
Aber natürlich gibt es, wie immer, eine gewisse Hoffnung. Dem Mainstream mag es gelingen, Tolkiens Werk vorläufig zu kapern und diejenigen, die es so lesen, wie es geschrieben und beabsichtigt worden war, mit den üblichen Diffamierungen in den Untergrund zu treiben; doch wie bei allen großen Kunstwerken wird auch Tolkien überleben und so wiederentdeckt und -gelesen werden, wie er es verdient - früher oder später; und wenn nicht in Europa, dann anderswo, wie es leider bei so vielen anderen abendländischen Schöpfungen schon der Fall zu sein scheint.
Und in der Zwischenzeit wird die Inspiration, die sein Werk den wenigen echten Tolkien-Lesern geben wird, umso größer sein, da es eben keineswegs im Gegensatz zu der Lage steht, in der sich die letzten Abendländer im 21. Jahrhundert befinden, sondern sie vielmehr vorwegnimmt - und auch alle Rezepte beschreibt, um unserem Schicksal mit Ehre und Pflichtgefühl zu begegnen: Mut, Treue, Freundschaft, Aufrichtigkeit und die absolute Überzeugung, daß diese Welt nicht das Ende ist und daß der Kampf für unsere Ideale die höchsten Opfer wert ist...
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