Deutsche Dysfunktionalität hat einen Namen: Berlin. Die überschuldete Bundeshauptstadt genießt bereits den internationalen Ruf, dass sie die einzige europäische Hauptstadt ist, nach deren plötzlichem Verschwinden das Bruttoinlandsprodukt des jeweiligen Landes nicht sinken, sondern steigen würde. Touristen mögen sich bei einem Tagestrip an der „lebendigen Vielfalt“ der Metropole berauschen, für junge Menschen, die der Provinz entrinnen wollen, gilt der Ort als Sehnsuchtsziel. Für all diejenigen, die ansatzweise einen bürgerlichen Lebensstil pflegen, ist Berlin dagegen ein bisher unbekannter Graben in den unteren Höllenkreisen von Dantes Inferno.
Was einstmals das Zentrum Preußens war, ist heute das genaue Gegenteil von Pünktlichkeit und Disziplin: Berlin gilt in weiten Teilen als unregierbar. Das beginnt beim unpünktlichen Nahverkehr, reicht über monatelange Wartezeiten auf den Ämtern und endet bei Migrantenvierteln, wo nicht die Polizei, sondern der jeweilige Migrantenclan durchgreift. Zugleich ist Berlin das Mekka des progressiven linken Milieus mit seiner Heimat Prenzlauer Berg, wo darüber gestritten wird, wie viele Parkplätze zugunsten von Fahrradwegen geräumt werden sollen, und innovative Ideen wie schwul-lesbische Kindertagesstätten ihre Geburt erleben.
Berlin war nach dem 12. Februar Thema europäischer Medien. Die dortige Wahl sorgte für Aufsehen, weil die zentristische CDU das beste Ergebnis seit 1999 einfuhr – und die Sozialdemokraten in ihrer traditionellen Hochburg so schlecht wie seit hundert Jahren nicht mehr abschnitten. Doch Berlin ist bundespolitisch so gut wie unbedeutend; auch von einem Hauptstadtprestige kann aufgrund des undankbaren Amtes als Bürgermeister kaum noch die Rede sein. Viel wichtiger als die Wahl vom 12. Februar ist das, wofür sie steht. Es ist nichts weniger als der größte Wahlskandal in der Geschichte der Bundesrepublik.
Denn die Berliner Wahl war keine reguläre Wahl. Sie war auch keine Neuwahl. Sie war eine Wiederholungswahl – angeordnet vom Berliner Verfassungsgerichtshof. Nicht weniger als der „Verlust des Vertrauens in die Demokratie“ stand laut Gericht auf dem Spiel. Was war passiert?
Der Wahl vom 12. Februar 2023 ging die Wahl vom 26. September 2021 voraus. An diesem Tag wählte Berlin nicht nur auf Landesebene ein neues Abgeordnetenhaus und die Bezirksverordnetenversammlung, sondern auch den Bundestag, das deutsche Parlament. Es war ein Superwahlsonntag – der die Stadtverwaltung maßlos überforderte. Zugleich hatte Berlin den Berlin-Marathon fest für diesen Sonntag eingeplant und wollte ihn partout nicht verlegen. Die Katastrophe kündete sich an, als sich bereits um 10 Uhr morgens Schlangen vor den Wahllokalen bildeten.
Der Tag ging als „Chaoswahl“ in die Geschichte ein. Es fehlte an Kabinen und Wahlscheinen. In manchen Lokalen verteilten die Wahlhelfer falsche Scheine. Migranten, die zwar bei der Landtagswahl wählen durften, aber nicht bei der Bundestagswahl, erhielten alle drei Zettel. In manchen Bezirken mussten die Wahllokale schließen und den Wahlvorgang unterbrechen – weil keine Wahlzettel mehr vorhanden waren. Neue Wahlzettel erreichten die Lokale nicht rechtzeitig, weil der Berlin-Marathon die Straßen versperrte und die Stadt am Wahlsonntag teilte. Wähler verließen entnervt das Lokal ohne Stimmabgabe. Für andere war sie nicht möglich. Während um 18 Uhr die Hochrechnungen bereits über die Fernseher flimmerten, wählten die Berliner immer noch. Wahlrechtlich verboten – aber an diesem Sonntag war alles möglich.
Zwar berichteten die Massenmedien am Sonntag von den Vorgängen in Berlin. Man konnte sie auch schlecht verheimlichen, da nahezu jeder Berliner Wähler das Chaos mitbekommen hatte. Am Abend mussten die Ergebnisse in Berlin „geschätzt“ werden. Selbst für das an Skandalen reiche Berlin war das eine Blamage.
Man stelle sich vor, eine ähnliche Skandalwahl hätte es in den USA, in Italien – oder gar in Ungarn oder Polen gegeben. Deutsche Medien und deutsche Politik hätten im überheblichen Tonfall die Zustände angeprangert. Doch an diesem Tag war alles anders. Nicht Rom, nicht Budapest, nicht Warschau hatte versagt. Die Bananenrepublik hatte sich an diesem Tag in Deutschland zu offensichtlich manifestiert.
Skandalöser als die Wahl selbst war jedoch der Umgang damit. Denn obwohl die Medien in den ersten Tagen die Zustände bei der Berliner Wahl anprangerten, lösten sich die Anschuldigungen bald in Luft auf. Die regierenden Sozialdemokraten, die ihre Macht in der Hauptstadt verteidigt hatten, erklärten, dass die Chaoswahl nicht mandatsrelevant gewesen sei. Die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, die mit jährlich 8,4 Milliarden Euro Einnahmen zu den bestbezahltesten Europas gehören, stellten ihre Berichterstattung fast augenblicklich ein. So, als könnte eine Stadtverwaltung einfach bestimmen, dass es eine behördliche Genehmigung bedarf, bevor es zu einer Wahlprüfung kommt. Die Chaos-Wahl wurde zu einer „Pannenwahl“ verniedlicht. Der Gedanke herrschte vor: So schlimm war das alles nicht. Auch das sagt einiges über das Demokratieverständnis in Deutschland aus.
Die Bundestagswahl, die Vereidigung der neuen Koalition aus Sozialdemokraten, Grünen und Liberalen nach 16 Jahren Angela Merkel sowie der Ukraine-Krieg lenkten die Aufmerksamkeit der Deutschen auf andere Felder. Dass die himmelschreienden Zustände in Berlin vom 26. September überhaupt aufgeklärt werden und Konsequenzen haben könnten – daran dachte niemand mehr.
Dass es anders kam, ist vor allem dem Journalisten Roland Tichy zu verdanken. Sein liberal-konservatives Magazin „Tichys Einblick“ heuerte ein Team junger Journalisten an, die die Protokolle der Wahl – 30.000 Unterlagen – sichteten, prüften und dokumentierten. Obwohl die großen Medienhäuser das Magazin und die Leistung der Jungautoren nicht erwähnen wollten, weil es als konservatives Medium politisch unangenehm war, verbreiteten sie die Ergebnisse in ihren eigenen Artikeln und stießen damit das Thema „Berlinwahl“ erneut an.
Das Magazin förderte alle schmutzigen Details zutage, von unausgefüllten Protokollen bis zur Verwehrung von Stimmzetteln und katastrophalen Zuständen, die immer wieder Bürger an der Wahrnehmung ihres demokratischen Rechts gehindert hatten. Das Team hatte dabei nach eigenen Angaben immer wieder Schikanen erfahren. Eine Rechtsanwaltskanzlei, die eine Wahlbeschwerde am Berliner Verfassungsgerichtshof geltend gemacht hatte, wurde später sogar vom Landeskriminalamt durchsucht.
Doch der Plan der linken Politik, durch Verharmlosung, Verschweigen und Verzögerungsmanövern doch noch die eigene Haut zu retten, ging nicht auf. Nach fast einem Jahr entschied der Berliner Verfassungsgerichtshof, dass aufgrund der Masse an Fehlern eine komplette Wiederholung der Wahl unumgänglich sei. Etwas, von dem die Berliner Politik, aber auch zahlreiche Medien behauptet hatten, dass es dazu gar keinen Anlass gebe. Man wollte sich nicht eingestehen, dass unter Federführung der Linken Berlin zu einer Stadt degradiert worden war, die nicht einmal ordnungsgemäße Wahlen abhalten konnte.
Man könnte meinen, dass mit dem Gerichtsbeschloss und der Wahlwiederholung vom 12. Februar nun alles seine Ordnung hätte. Doch das stimmt nicht. Ganz im Gegenteil hat sich die deutsche Politik ein Manöver erlaubt, das sie manch einem anderen EU-Mitgliedsland als antidemokratische Maßnahme vorgeworfen hätte. Denn wie erwähnt fand im September 2021 nicht nur die Landtagswahl statt – sondern auch die Bundestagswahl. Deren Wiederholung steht noch aus. Und als ob dies nicht genug wäre, haben sich die Bundestagsfraktionen der regierenden Ampel-Fraktion darauf geeinigt, diese nur in Teilen zu wiederholen. Während die Stadt Berlin die gesamte Wahl wegen der gravierenden Verstöße für notwendig hielt, behauptet man auf Bundesebene, es sei nur eine Wahlwiederholung in 17 Prozent der Wahllokale nötig. Wieso die Chaoswahl bei der Bundestagswahl anders gelaufen sein sollte als bei der Landtagswahl, bleibt ein bundesdeutsches Mysterium.
Eine solche Entscheidung war nur möglich, weil auf Berliner Landesebene ein Gericht, auf Bundesebene dagegen der Bundestag für die Wahlprüfung und Wahlwiederholung zuständig war. Politiker richteten über Politikerversagen. Und die Parteien der auf Bundesebene regierenden linksliberalen Ampel-Koalition kamen zum Schluss, dass die Sache nicht so wild sei. Während das Berliner Gericht die Komplettwiederholung anordnete, um den Vertrauensverlust in die Demokratie zu verhindern, leistet der Bundestag diesem auch noch Vorschub.
Ein pikantes Detail: derzeit sitzt die linksradikale Linkspartei im Bundestag, obwohl sie an der 5-Prozent-Hürde gescheitert ist. Möglich ist das nur wegen einer Besonderheit im deutschen Wahlrecht. Erringt eine Partei drei Direktmandate, dann zieht sie dennoch ins Parlament ein – mit der Sitzanzahl, die ihren Zweitstimmen entspricht. Die Linkspartei hat 2021 genau drei Direktmandate errungen; und zwei davon ausgerechnet im Zuge der Chaoswahl in Berlin. Mindestens eines davon ist nach den jetzigen Verhältnissen nicht mehr sicher.
Allein deswegen hat die Vermeidungsstrategie des Bundestages bei vielen kritischen Medien und Wählern zur Spekulation geführt, dass die komplette Wahlwiederholung in Berlin vermieden werden soll, um eine mögliche Schrumpfung des deutschen Nationalparlamentes zu verhindern. Der politische Betrieb will sich nicht in seine Abläufe hereinreden lassen – und regiert im Zweifel auch mit falschen Wahlergebnissen.
Genau deswegen sind bereits beim Bundesverfassungsgericht mehrere Beschwerden eingegangen. Darunter auch von „Tichys Einblick“, das die Wiederholung der Abgeordnetenhauswahl in Berlin erst angestoßen hatte. Das alles passiert nicht in irgendeinem Drittweltstaat, sondern mitten in Europa, in einem Land, das sich auf EU-Ebene als Hüter demokratischer Ordnung stilisiert und gar nicht schnell genug per Presse oder Politik auf die „schwarzen Schafe“ in den Nachbarländern zeigen kann. Womöglich wird Berlin trotz der Probleme vor der eigenen Haustüre auch in Zukunft nicht davon lassen. Aber die anderen Europäer sollten es sich merken, wenn Deutschland wieder einmal den politischen Moralisten spielt.
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