Wie fest sitzt die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen im Sattel? Folgt man offiziellen Darstellungen, dann spricht alles dafür, dass die Deutsche eine zweite Amtszeit anstrebt und dafür auch breite Unterstützung hat. Alexander Graf Lambsdorff, früher Vizepräsident des Europäischen Parlaments und heute Fraktionsvize der FDP (ALDE) im Bundestag, stärkt von der Leyen den Rücken: „Aus deutscher Sicht wäre eine zweite Amtszeit von Ursula von der Leyen natürlich sinnvoll“, erklärt er dem Tagesspiegel. Doch Lambsdorff macht diese Verlängerung von einer Bedingung abhängig: Sie muss als Spitzenkandidatin der EVP antreten. Und die Wahl gewinnen.
Denn nicht jeder hat vergessen, wie die Kür der ehemaligen deutschen Verteidigungsministerin im Jahr 2019 abgelaufen ist. Denn eigentlich hatte die EVP Manfred Weber zum Spitzenkandidaten nominiert. Trotz Verlusten stellte die EVP anschließend die stärkste Fraktion im Parlament. Damit hatte Weber gegen seinen sozialistischen Rivalen Frans Timmermanns gewonnen. Doch die EU kassierte kurzerhand das zuvor als demokratischen Fortschritt präsentierte Spitzenkandidatensystem ein. Der Europäische Rat nominierte von der Leyen, die dann eine Mehrheit der Stimmen erhielt.
Sieht man sich das damalige Ergebnis an, erkennt man leicht, warum die Leyen-Frage sich mehr denn je stellt. Die deutsche SPD oder die Fraktion der Grünen wählten die Christdemokratin nicht. Dafür erhielt sie Stimmen von Viktor Orbáns „Fidesz“, der PiS, Silvio Berlusconis „Forza Italia“ und dem linken „Movimento 5 Stelle“. Das Ergebnis lautete 383 zu 327. Die eben erwähnten Parteien brachten von der Leyen zusätzliche 59 Stimmen. Es ist fraglich, ob sie im nächsten Jahr in einer ähnlichen Konstellation genau so abstimmen würden wie damals. Die mögliche Verschiebung Richtung rechts ist dabei noch nicht einmal einberechnet.
Die EU hat dazumal ihren Kandidaten noch mit Biegen und Brechen durchboxen können, nicht zuletzt aufgrund der Fürsprache Emmanuel Macrons – doch wie soll das möglich sein, wenn dieses Mal wieder das Spitzenkandidatensystem die Entscheidung bringen soll? Zudem ist von der Leyens Stellung innerhalb der EVP weniger abgesichert, als es den Anschein macht. Weber, der de jure Gewinner der Wahl war, aber de facto zum Verlierer abgestempelt wurde, ist weiterhin Fraktionschef. Anders als Timmermanns hat Weber kein Amt bekommen – der Niederländer ist Kommissar für Klimaschutz. Webers Flirt mit den Parteien rechts der EVP ist in den letzten Monaten besonders in der Migrationsfrage offensichtlich geworden. Offenbar sucht der Fraktionschef seine Hausmacht abzusichern – ob unbedingt für die Kommissionspräsidentin, die ihm den Posten gestohlen hat, ist fraglich. Andererseits hat Weber vor kurzem den strategischen Fehler begangen, eine „Brandmauer“ zur PiS bauen zu wollen. Heißt: die EVP führt ein Katz- und Mausspiel mit der EKR-Fraktion, will aber zugleich ihre Unterstützung haben wie 2019. Ohne Konzessionen dürfte das aber kaum möglich sein.
Die Unterstützung der EKR ist von fundamentaler Bedeutung, will die EVP über die Wahl eines Spitzenkandidaten an der Macht bleiben. Zwar sieht es nicht nach einer linken Mehrheit bei der nächsten Europawahl aus, doch dürften die Zentristen dennoch darauf hoffen, stark genug zu sein, um nicht von den Linken bei der Wahl zu sehr abhängig zu sein – wie schon das Beispiel bei der letzten Wahl zeigte, bei der auch zahlreiche Mitglieder der S&D-Fraktion ihre Zustimmung versagten.
Nach derzeitigem Stand dürfte die Stärke der EKR-Fraktion bei der nächsten Wahl deutlich zunehmen. Die Vox in Spanien gewinnt dazu. Die Finnenpartei hat sich mittlerweile der EKR angeschlossen. Den Ausschlag dürften aber die vor Kraft strotzenden „Fratelli d’Italia“ geben, wenn sie im nächsten Jahr die Stimmen der Lega abgreifen – und auf eine ähnliche Stärke wachsen könnte, wie sie die Lega jetzt hat. Anders als die PiS hat Melonis Partei bereits 2019 gegen von der Leyen gestimmt. Das dürfte man in Brüssel nicht vergessen haben.
Bemerkenswert ist deswegen eine bisher unbekannte Vertrautheit zwischen Meloni und von der Leyen – etwa beim EU-Treffen mit dem tunesischen Präsidenten Kais Saied. Neben von der Leyen und Meloni war auch der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte dabei. Von der Leyen stellte insgesamt rund 1,1 Milliarden für den tunesischen Staatshaushalt in Aussicht, 150 Millionen davon „sofort“. Zwar kündigte Saied an, sein Land werde nicht die „Grenzpolizei“ für Europa spielen. Doch das ist de facto die Rolle, die Meloni Tunesien zugedacht hat. Italien forciert damit seine Außenpolitik über Brüssel und beteiligt die EU an den Zuwendungen. Dass ein solcher Vorstoß von der Deutschen auch deswegen begrüßt wird, um die Italienerin an sich zu binden, dürfte offensichtlich sein.
Andererseits dürfte auch Meloni um ihre Position wissen und diese ausnutzen. Man arbeitet mit der EU, solange die Zukunft der Kommissionspräsidentin ungeklärt ist. Die Ministerpräsidentin hat den Vorteil, dass sie abwarten kann. Die Regierung in Rom ist für italienische Verhältnisse außerordentlich stabil, die nächste Wahl erst in vier Jahren. In Berlin regiert eine zerstrittene Dreierkoalition, auf die der Unmut der Bevölkerung wächst, im französischen Parlament hat Macron derzeit keine feste Mehrheit. Somit ist Meloni auch als Regierungschefin eine verlässliche Adresse in den nächsten Jahren. Dabei bietet sich für die Römerin eine ganz eigene Option: sollte die EKR das Zünglein an der Waage sein und soweit anwachsen, dass „Brandmauern“ oder „Postfaschisten“ - vergleiche unklug scheinen, könnte sie ein eigenes Wort mitreden, wenn die ID an Bedeutung verliert und eine große rechte Fraktion in Aussicht steht. Die wichtigste Frau Europas sitzt dann nicht mehr in Brüssel, sondern am Tiber – womöglich auch, weil dann wieder ein Mann der EU-Kommission vorsteht.
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