Deutschlands verzweifelte Suche nach Geopolitik
Deutschland hat Angst vor Geopolitik. Dem Begriff haftet der Imperialismus förmlich an. Die deutsche Mentalität verbindet mit Geopolitik vornehmlich Rohstoffkriege. Ein nicht geringer Teil der Bevölkerung verbindet mit dem Afghanistankrieg 2001 die Absicht, eine Pipeline zu bauen; und mit dem Irakkrieg 2003 die Kampagne „Blut für Öl“. Berlin hat angesichts seiner in Diplomatie und Ökologie bewahrten moralischen Oberhoheit penibel darauf geachtet, nicht in solche Kontexte zu geraten. Doch die jüngst erfolgte Lateinamerika-Reise des Kanzlers bringt die deutsche Energie- und Außenpolitik in mehrfache Bedrängnis. Sie offenbart die Hilflosigkeit etwaiger deutscher Langzeitstrategien – auch mit Folgen für europäische Interessen.
Bundeskanzler Olaf Scholz hat in mehrfacher Hinsicht ein schwieriges Erbe angetreten. Bereits die sozialdemokratisch-grüne Koalition unter Gerhard Schröder hatte den Ausstieg aus der Kernkraft verordnet. Den hatte zwar die christdemokratische Nachfolgerin Angela Merkel zuerst rückgängig gemacht. Doch nach dieser Wende folgte eine zweite. Merkel nutzte Fukushima als Sprungbrett für eine Energiewende, die nicht nur den Ausstieg aus der Kernkraft vorsah, sondern eine prinzipielle Abkehr von „fossilen“ Energien.
Zu dieser Klimaschutzoffensive gehörten mehrere „Wenden“. Darunter auch eine Mobilitätswende. Bereits 2016 verkündete der damalige Staatssekretär im Umweltministerium, Jochen Flasbarth, den Verbrennungsmotor bis 2035 abschaffen zu wollen. Deutschland subventionierte Elektro-Autos, zugleich flankierten die Medien die Regierungspolitik mit einer Schmierenkampagne gegen Benziner- und Dieselmotoren. Auf EU-Ebene regiert mittlerweile mit Ursula von der Leyen eine enge Weggefährtin von Merkel. Das „2035-Ziel“ ist Realität geworden. Deutschland hat es aggressiv vorangetrieben.
Merkels vermeintliche Klimastrategie war in Wirklichkeit ein politischer Coup. Mit Klimaschutz, Erneuerbaren Energien und Atomausstieg wollte sie den Grünen, die zur stärksten Kraft in den Bundesländern und auf Bundesebene zu avancieren drohten, den Wind aus den Segeln nehmen. Die zentristische CDU strich sie immer einen Grünton stärker an als der politischen Rivale. Damit sicherte sich die Kanzlerin den Machterhalt und die Option, Koalitionen mit einem grünen Juniorpartner eingehen zu können. Sie erweiterte dieses Kalkül, indem ihre Partei auch noch einen Kohleausstieg vorantrieb.
Die Auswirkungen auf den Industriestandort Deutschland sind dagegen fatal. Schon vor der Inflations- und Energiekrise kletterten die deutschen Strompreise auf unbekannte Höhen. Deutschland mutierte zudem von einem energieunabhängigen Land zu einem Energie-Importeur. Bereits Schröder hatte mit dem Bau von Nord Stream 1 die grüne Strategie vollzogen, den ausbleibenden Atomstrom mit Gas zu deckeln. Die Russland-Strategie Merkels und der Bau von Nord Stream 2 sind auf den steigenden Energiebedarf Deutschlands zurückzuführen, da Windräder und Solarzellen keine Grundlast erzeugen, sondern von den Elementen abhängig sind.
Somit diktierte die selbstgewollte Abhängigkeit vom deutschen Gas auch die Außenpolitik gegenüber Russland. Dies war jedoch nicht der einzige Fall. Mit dem Bau von Windkraftanlagen und Solarzellen begab sich Deutschland in eine zusätzliche Abhängigkeit von China. Bisher gilt die Volksrepublik als größtes Rohstofflager der dringend benötigten Seltenen Erden. Für seine ökologischen Utopien musste eine der größten Wirtschaftsnationen des Planeten seine energetische Unabhängigkeit aufgeben. Der aktuelle Import von Flüssiggas aus den USA, der letztlich den russischen Gasimport ersetzt, ist nur eine weitere Abhängigkeit.
Eine weitere Ressource zeigt jedoch das gesamte deutsche Dilemma auf: Lithium. Lithium gilt aufgrund der expandierenden Elektrobranche als „weißes Gold“ der Industrie. Es steckt in nahezu allen Batteriebestandteilen. Namentlich: Autobatterien von Elektroautos. Dass die Bundeskanzlerin der deutschen Industrie die kostenintensive Energiewende schmackhaft machen konnte, gründete auf mehreren Versprechungen. Unter anderem sollte Deutschland Vorreiter bei neuen Technologien sein. Statt Autoproduzent regulärer Verbrennerautos sollte Volkswagen Weltmarktführer von Elektroautos werden.
Der hehre Wunsch gestaltete sich jedoch in seiner Realisierung als schwierig. Während chinesische und amerikanische Firmen direkt Lithiumminen in Übersee betrieben, hielten sich deutsche Firmen an den Grundsatz, das Metall auf dem Weltmarkt zu kaufen. Gefangen in der „Welt von gestern“ kamen deutsche Produzenten nicht auf den Gedanken, dass Ressourcen Erpressungspotenzial besitzen. Dass der chinesische Staatskonzern Tianqi fast 50 Prozent Anteil an der weltweiten Lithiumförderung besitzt, ist bisher nicht immer ein profitables Geschäft gewesen. Doch der Staatskonzern kann damit langfristig sicher sein, dass die Elektroautoproduktion im Reich der Mitte für die nächsten Jahren problemlos abläuft. Elon Musk hat für Tesla bereits vor einigen Jahren angekündigt, über den US-Lithiumförderer Albermarle direkt Lithium zu beziehen. Musk hat erst vor wenigen Tagen den Paradigmenwechsel konstatiert: Lithium ist das neue Öl.
Länder, die bei diesem Wettlauf mitmachen wollen, müssen neokoloniale Ambitionen haben. Wie im 19. Jahrhundert stehen auch heute den Weltmächten Flotten und Armeen zur Verfügung. Das pazifistisch-ökologische Deutschland hat diese Möglichkeit nicht. Es hat sich stattdessen in eine doppelte Zwangslage gebracht: es muss Klimaschutzvorreiter sein und zugleich einen Rohstoff fördern, dessen Abbau als extrem schmutzig gilt. Im Länderdreieck Argentinien-Bolivien-Chile liegen die größten Lithiumvorkommen der Welt, deren Abbau Millionen Liter Wasser erfordert – in einer wasserarmen Region, wo die Menschen unter der zerstörten Umwelt leiden.
Deutschland versuchte bereits in der Endphase der Regierung Merkel seine „soft power“ einzusetzen, indem es in einem Wettbewerb um das bolivianische Lithium bessere Rahmenbedingungen versprach. Die Deutschen wollten das Lithium umweltverträglicher abbauen als der chinesische Konkurrent und die Bevölkerung von der Ausbeutung der Ressourcen profitieren lassen. Überraschend gab der damalige Präsident Evo Morales einem baden-württembergischen Unternehmen den Zuschlag – und düpierte die Chinesen.
Nur wenig später sollten die Wahlen 2019 in Bolivien jedoch zuungunsten von Morales ausgehen. In der Lithiumregion gab es einen Aufstand. Die Arbeiter monierten, dass die Deutschen sich die Taschen vollstopfen wollten. Bisher sind die genaueren Umstände dieser Beschuldigungen nicht geklärt. Fakt ist jedoch, dass die Lizenz an die Deutschen ein wichtiges Thema im Zuge des Sturzes von Morales wurde. Verzweifelt versuchte Morales zuletzt, den Vertrag aufzulösen, und sich damit den Präsidentensessel zu sichern. Die Chinesen, die noch ihre schützende Hand über seinen venezolanischen Amtskollegen Maduro hielten, als dieser in eine ähnliche Krise geraten war, krümmten für Morales keinen Finger.
Das Beispiel enthält eine deutliche Lehre: mit Klima- und Umweltschutz allein kann man keine Länder gewinnen. Es sind sicherheitspolitische Garantien nötig. Auch für unangenehme Gestalten. Es sind moralische und weltpolitisch pikante Spiele, die man sich mit einer ordentlichen Energiepolitik daheim hätte ersparen können. Bolivien muss anderen lateinamerikanischen Ländern eine Lehre sein, dass auf Deutschland kein Verlass ist, wenn es hart auf hart kommt.
Es sind diese Altlasten, die Scholz auf dem Rücken trug, als er Argentinien, Chile und Brasilien besuchte. In Argentinien und Chile gab es einen freundlichen Empfang und ebenso freundliche Worte. Die Zusagen blieben aber dünn. Der „Scramble for South America“ läuft, aber Deutschland redet lieber über grüne Energien, um etwa Argentinien von der fossilen „Abhängigkeit“ zu befreien – mit einem Modell, das schon in Deutschland nicht funktioniert hat.
Eine regelrechte Düpierung musste Scholz dagegen in Brasilien über sich ergehen lassen. Der Sozialdemokrat glaubte in dem linken Präsidenten Lula einen Verbündeten zu finden, etwa beim Klimaschutz. Doch Lula lachte seinen deutschen Kollegen in der Pressekonferenz für diese Pläne regelrecht aus. Für Verstimmung sorgte ein neues Lieferkettengesetz auf EU-Ebene, dass Deutschland federführend entwickelt hatte. Es soll Produkte benachteiligen, bei deren Herstellung die Zerstörung des Regenwaldes vornagetrieben wird. Die deutsche moralische Hybris rächte sich demnach erneut im praktischen diplomatischen Spiel. Scholz zog ergebnislos ab.
Verantwortlich ist dafür jedoch weniger Scholz, denn eine seit zwanzig Jahren geführte deutsche „Strategie“, aus deren Fängen sich der ausgerechnet mit den Grünen koalierende Kanzler kaum befreien dürfte. Ob Außen-, Sicherheits- oder Energiepolitik – sie alle sind in Deutschland dem Klimaschutz untergeordnet worden (obwohl man sich fragen darf, wie dies mit dem Ausstieg aus der CO2-armen Kernkraft zu vereinbaren ist).
Diese Unterordnung sämtlicher Politikfelder unter einen großen Plan, unter eine „große Idee“, hat erhebliche Auswirkungen auf die europäische Politik. Die europäischen Verbündeten werden sowohl beim Umgang mit Russland als auch im Umgang mit China immer wieder erleben müssen, dass Deutschlands selbstverursachten Probleme Vorrang haben gegenüber gemeinsam formulierten Zielen. Und Europa wird sich darauf gefasst machen müssen, dass der vermeintliche Koloss in der Mitte Europas auf tönernen Füßen stehen wird, sollte sich die Energiekrise verschärfen. Scholz hat erst letzte Woche angekündigt, dass die letzten drei deutschen Atomkraftwerke im April abgeschaltet werden sollen.
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