Deutschland muss es sehr gut gehen. So scheint es jedenfalls, wenn man sich anschaut, mit welchen Gesetzen sich die Koalition aus Sozialdemokraten, Grünen und Liberalen nach der Sommerpause beschäftigt. Die Cannabis-Legalisierung etwa. Oder ein Verbot für ungesunde Nahrung. Das Selbstbestimmungsgesetz, mit dem jeder Deutscher ohne großen Aufwand sein Geschlecht per Wunsch wechseln kann, gehört ebenso in die Reihe. Und als ob es Olaf Scholz bekräftigen wollte: im Sommerinterview spielte der Kanzler die Rolle eines Mannes, der einem brummenden europäischen Wirtschaftsmotor vorstand, der nur auf ein neues Wirtschaftswunder wartete.
Die Wirklichkeit sieht dagegen anders aus. Deutschland gehört zu den Schlusslichtern im europäischen Vergleich. Der deutsche Staat hat sich selbst verordnet, keine neuen Schulden mehr aufzunehmen, arbeitet jedoch im Bundestag mit „Sondervermögen“, die es ihm erlauben, an der Schuldenbremse vorbei Milliarden auszugeben, die er eigentlich nicht ausgeben darf. Dem Bürger drohen trotz Wirtschaftsflaute neue Steuern und versteckte Abgaben, etwa durch eine Reformierung des Heizungsgesetzes oder die CO2-Steuer. Währenddessen warnt der Präsident der Arbeitgeberverbände offen: Je länger die Politik in der Krise warte, desto härter treffe es den Standort Deutschland - und desto größer sei der Wohlstandsverlust.
Die Schere zwischen deutscher Politik und deutscher Realität klafft demnach sichtbar auseinander. Dabei wäre es falsch, die derzeitige Lage nur auf die aktuelle Ampel-Regierung zurückzuführen. In 16 Jahren Kanzlerschaft von Angela Merkel sprudelten die Einnahmen, doch diese flossen meistens in Wolkenschlösser, statt in Reformen umgesetzt zu werden. Die Merkel-Ära ist eine Phase verlorener Jahre, in der verpasst wurde, Deutschland auf die Zukunft vorzubereiten. Nunmehr muss es die Ampel richten – die in ihrer linksliberalen Richtung vornehmlich daran denkt, wie sie das Geld anders und für eigene Projekte ausgibt. Dass Deutschland zudem im Gesundheitsbereich, in der Pflege, bei den Krankenkassen und prinzipiell im Sozialsystem eine Krise bisher unbekannten Ausmaßes droht – verstärkt wird dieser Effekt noch durch das Bürgergeld, das neue Löcher in den Staatshaushalt reißt - kann hier nur am Rande skizziert werden. Dass die CDU/CSU in der Opposition davon kaum profitiert, heißt auch, dass viele Wähler verstanden haben, dass die Union für die derzeitige Lage mitverantwortlich ist.
Auch bezüglich der illegalen Zuwanderung verdrängt Deutschland die gegenwärtige Lage. Ähnliches kann man in der Außenpolitik beobachten. Erst recht im Energiebereich. Wie in den 1990ern droht die führende Wirtschaftsmacht des Kontinents, zum kranken Mann Europas zu degenerieren. Dass die Ampel den Ernst der Lage mit ideologischer Wohlfühlpackung zu behandeln versucht, zeigt, dass man sich der Lage entweder nicht bewusst ist – oder Ablenkungsmanöver braucht. Exemplarisch sei dabei auch der Hitzeschutzplan des Gesundheitsministers Karl Lauterbach genannt, indes ein Kliniksterben in Teilen des Landes begonnen hat. In der Europäischen Union erscheint Deutschland längst paralysiert, ähnlich wie sein französischer Nachbar, der mit einem unregierbaren Parlament hadert – einzig Italien unter Ministerpräsidentin Giorgia Meloni besitzt eine Bewegungsfreiheit, die es ihr ermöglicht, wie kaum ein anderer Regierungschef von der Brüsseler Administration und Brüsseler Parlamentsvertretern umschwärmt zu werden. Die Bundesrepublik hinkt dagegen nach, setzt keine Akzente, sondern folgt mühsam den Geschehnissen.
Ein ähnliches Phänomen zeigt sich in der Bewältigung der Probleme im Wohnungssektor. Schlicht gesagt: es wird in Deutschland zu wenig gebaut. Ein Video hat dabei traurige Berühmtheit erlangt, in welchem eine Menschenschlange eine Straßenzeile füllt – zur Wohnungsbesichtigung. Erinnerungen an die Mangelwirtschaft der DDR werden wach. Rund 700.000 Wohnungen fehlen in Deutschland. Das hat zu steigenden Mieten im Land geführt. Die SPD, der die Bauministerin Klara Geywitz angehört, hat auch hier eine paradoxe Idee: sie will bestehende Mietverträge einfrieren. Für drei Jahre sollen die Mieten nur noch um maximal 6 Prozent steigen dürfen. Angesichts steigender Baukosten sind die Anreize für Unternehmen, neue Wohnungen zu bauen, damit eher gering. In Berlin, wo sich die eingangs erwähnte Szene ereignet hat, hat die SPD übrigens vor einigen Jahren den „Mietpreisdeckel“ durchgesetzt.
Doch Olaf Scholz droht nicht nur die Bundespolitik auf die Füße zu fallen, sollten sich die Probleme weiterhin jeden Tag aufsummieren. Denn der Kanzler hat auch persönlich eine Krise zu bewältigen, die ihn seit Amtsantritt verfolgt. Scholz ist seit Jahren in einen Finanzskandal verwickelt, bei dem unklar ist, in welchem Maße er tatsächlich auch selbst involviert ist. Konkret geht es um einen milliardenfachen Steuerbetrug der Warburg Bank über Cum-Ex-Geschäfte. Scholz war zum Zeitpunkt des Betrugs Bürgermeister der Hansestadt Hamburg. Die Stadt hätte Milliardenrückforderungen an die Warburg Bank stellen können. Doch diese Rückforderungen – immerhin unterschlagene Steuergelder – wurden nicht zurückverlangt. Scholz stand damals im Kontakt mit den führenden Persönlichkeiten von Warburg. Es gab Gespräche. An deren Inhalt will sich Scholz nicht erinnern können. Die Causa begleitet nicht nur eine merkwürdige Amnesie des Bundeskanzlers, sondern auch ein verlorener Terminkalender und andere Kuriositäten, wie sie üblicherweise nur in Bananenrepubliken vorkommen – inklusive der sich seit Ende August erhärtenden Vermutung, dass der Kanzler vor einem Untersuchungsausschuss gelogen haben könnte. In Deutschland hat man für diese einzigartige Melange aus ideologischem Zerstörungswillen, geballter Inkompetenz und Korruption übrigens einen Begriff. Er lautet: „Bestes Deutschland aller Zeiten.“
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