Europa ist ein offiziell säkularisierter Kontinent. Das Christentum sieht man entweder als Folklore oder störendes Relikt an. Bezeichnenderweise hat das 19. Jahrhundert die abendländischen Gesellschaften in mehrfacher Hinsicht transformiert. Der Liberalismus wollte das Religiöse aus der öffentlichen Sphäre ins Private drängen. In ihrem Bemühen, die Religion zu einem menschengemachten, „weltlich Ding“ zu degradieren, forcierten die Nationalstaaten zugleich mit dem Nationalismus und später mit ihren totalitaristischen Spielarten eine Sakralisierung des Politischen. Der Kommunismus duldet auch deswegen die Religion nicht, weil sein Manifest ein Evangelium, sein Führer ein Messias und seine Mission nicht weniger als die Erlösung der Menschheit ist.
Auch ohne das Abdriften in die schlimmsten anti-religiösen Regimes ist im entchristianisierten Europa eine erstaunliche Renaissance des Religiösen anzutreffen. Chesterton hat diese Entwicklung bereits vorausgeahnt, als er zu Beginn des 20. Jahrhunderts postulierte, dass die Menschen ohne Christentum nicht etwa begännen, an gar nichts zu glauben, sondern stattdessen an alles Mögliche. Wenn eine Gesellschaft ihr Glaubenskorsett verliert, ist es schwierig, dieses wiederzufinden; dazu bedarf es nicht nur neuer Überzeugungen, sondern auch strikter Dogmen, die unhinterfragbar sind.
Chesterton analysierte bereits zu seiner Zeit eine ganze Reihe modernistischer Dogmen, die den Zeitgeist bestimmten. Die vermeintlich freie und demokratische Gesellschaft stand auf einem mindestens ebenso festen Glaubenskorsett wie die Inquisition – im Zweifel war dieses Korsett sogar unbarmherziger. Dieser Hang, in einer gottlosen Gesellschaft mit einer über Dogmen aufgebauten Ideologie einen neuen Kitt, eine „neue Idee“ herzustellen, hat in den letzten Jahrzehnten größeren Zulauf denn je erfahren.
Während die Sprache der Kirche in den letzten Jahren immer politischer geworden ist, ist die Sprache des Politischen immer religiöser geworden: da ist jeder Wahlkampf eine Endzeitschlacht zwischen gut und Böse, eine Wahl zwischen Heilsbringer und Dämon, das Abweichen von einer dominierenden politischen Meinung eine Häresie, die mit Ausschluss geächtet werden muss. Die Behauptung, dass in einer liberalen Demokratie das bessere Argument oder gar die überzeugenderen Positionen gewännen, ist ein Anspruch, der nichts mit der Wirklichkeit zu tun hat. Während einerseits die Behauptung steht, man „folge der Wissenschaft“, gibt es etwa kaum ein Feld das so vermint ist wie das des Klimawandels, der zumindest in Deutschland seit Jahren nur noch als „Klimakatastrophe“ und damit als unerklärte Apokalypse gezeichnet wird.
Man darf dabei nicht denselben plumpen Vergleichen verfallen, die auch im konservativen Lager gelten, wenn von Sekten, von Ablasshandel, einer neuen Religion und anderen Schlagworten geredet wird. Die Problematik geht tiefer. Es wäre freilich einfacher, handelte es sich tatsächlich um eine neue Kirche. In Wirklichkeit ist die Verehrung der Politik als neues Goldenes Kalb eine gewichtigere wie gefährliche Angelegenheit. Hier ersetzt nicht eine Religion eine andere; vielmehr handelt es sich um eine große Verwirrung, die zwar Glaubenssätze besitzt, diese aber willkürlich von Tag zu Tag ändern kann. Es handelt sich um Weltanschauungen, die für ein paar Monate und Jahre Sinnlosigkeit überbrücken, jedoch nichts, das einem Halt oder Erlösung für ein Leben gibt.
Es ist deswegen kein Zufall, dass in der Vollendung des Totalitarismus die Willkür herrscht, wer erschossen wird; man denke an Stalin und Mao, die einst enge Weggefährten verfolgen und töten ließen, schlicht weil das, was sie gestern noch als Wahrheit postulierten, morgen schon Lüge sein konnte. George Orwell hat in 1984 diesen Wesenszug der entmenschlichten Ideologien damit auf den Punkt gebracht, dass Ozeanien nie im Krieg mit Eurasien gewesen sei, sondern stets mit Ostasien. Wer gestern noch in der LGBT-Bewegung ganz vorne stand, weil er sich für die Rechte von Lesben einsetzte, kann morgen schon Staatsfeind sein, weil er die Schutzräume von Frauen gegen „Transfrauen“ verteidigen möchte. Die gestern noch verehrte Feministin kann morgen eine geächtete Transphobikerin sein. Das ist die Macht des modernen Dogmas.
Die deutschen Grünen sind eine Partei der Dogmen par excellence. Das Dogma steht so lange fest und unverrückt, bis die Devise kommt, es zu ändern; im Moment seiner Existenz ist das Dogma jedoch so wenig zu hinterfragen wie der Wechsel zwischen Tag und Nacht. Die Grünen haben als Teil der Friedensbewegung angefangen und sind heute dafür, Waffen in Kriegsgebiete zu liefern; sie sprachen sich einst für den Umweltschutz aus und hebeln diesen heute aus, um Deutschland mit Solar- und Windkraftanlagen zuzukleistern. Ein Dogma, das jedoch seit den 1980ern unverändert steht, gewissermaßen ein Gebot der Grünen seit ihrer Gründung ist: das ist der Atomausstieg.
Diese Erklärungen sind deswegen notwendig, um zu verstehen, was im April in Deutschland passiert ist. Es ist dabei wichtig zu unterstreichen, dass der Atomausstieg keine rein grüne Idee ist. Zwar wurde ein (erster) Atomausstieg bereits unter der rot-grünen Regierung des Sozialdemokraten Gerhard Schröder ausgehandelt. Die Regierung von Angela Merkel, die ab 2005 zuerst mit den Sozialdemokraten, ab 2009 mit den Liberalen koalierte, versuchte diesen Ausstieg zuerst umzukehren oder wenigstens zu verzögern. Doch es war ausgerechnet Merkel, die 2011 selbst den Atomausstieg einleitete: offiziell unter dem Eindruck der Tsunami-Katastrophe in Fukushima, inoffiziell, weil die Grünen danach bei den Wahlen zu gewinnen drohten.
Das Dogma hatten zu diesem Zeitpunkt weite Teile der parteipolitischen Landschaft wie auch der Gesellschaft verinnerlicht. Die Technologie sei prinzipiell gefährlich und unbeherrschbar, hieß es. Im Parlament stimmten nur 9 von 600 Abgeordneten gegen die Abschaltung; zwar stimmten auch die 70 postkommunistischen Abgeordneten der Linkspartei dagegen, jedoch nur, weil sie den Atomausstieg im Grundgesetz festschreiben wollten. Der Ausstieg als solcher war also ein Werk Merkels, die letztlich auf den grünen Zug aufsprang. Sie formulierte mit der Energiewende ein nächstes, unantastbares grünes Dogma, das bis heute gilt.
Es spielt deswegen keine Rolle, dass die bereits abgeschalteten Kernkraftwerke Deutschlands CO2-Bilanz deutlich verbessert hätten, oder die erst jetzt abgeschalteten zumindest etwas bei den Klimazielen geholfen hätten; es spielt keine Rolle, dass Deutschland deswegen über Jahre eine Gas-Strategie gefahren hat, die geopolitisch, klimapolitisch und preispolitisch höchst problematisch ist; es spielt keine Rolle, dass eine neue Kernkraft-Generation viele der Probleme lösen, von denen die Grünen und ihre überparteilichen wie übermedialen Vertreter behaupten, dass sie diese erst verursachten; es spielt keine Rolle, dass Deutschland heute zu den „schmutzigsten“ Ländern bei der Energieversorgung zählt, indes Frankreich mit seiner jahrzehntelangen Atompolitik deutlich „sauberer“ dasteht und auch das Nachbarland Polen über den Bau von Kernkraftwerken nachdenkt; und es spielt nicht die geringste Rolle, dass Deutschland zwar die Atomkraft abschaltet, aber aufgrund flauer Winde und ausbleibender Sonnenstunden dennoch Atomstrom aus den Nachbarländern importiert. Denn ein Dogma ist ein Dogma.
Stattdessen verbreitet eine grüne Politikerin das Märchen, der Strompreis würde nach Abschaltung der Kernkraftwerke sinken, weil der Atomstrom dann deutsche Netze nicht mehr „Verstopfen“ würde; Stromkonzerne wie der Energieriese E.on heben ihre Strompreise um mehr als 40 Prozent an. Grüne Politiker behaupten gar, Atomstrom sei „Fossil“, denn Uran stamme aus der Erde (obwohl Kohle und Öl organischen Ursprungs sind, Uran dagegen eine mineralische Substanz). Arnold Vaatz, einer der Rebellen, die 2011 gegen den Ausstieg aus der Atomkraft votierten, erzählte dem Magazin Tichys Einblick aus Anlass der Abschaltung der letzten drei Atommeiler am 15. April, man habe ihm damals „den Vogel gezeigt“. Man habe ihn isoliert. Eben das, was man mit Häretikern macht, die gegen ein Dogma verstoßen.
Es gibt ein markantes Bild zu diesem 15. April. Es spielte sich vor dem Brandenburger Tor in Berlin ab. Greenpeace nutzte einen erdolchten Dinosaurier, umgeben von radioaktivem Müll, über den eine rote Sonne triumphierte. Darauf der alte Slogan: „Atomkraft – Nein Danke!“ Ein Überbleibsel der Umweltbewegung des vergangenen Jahrhunderts. Wer der eigentliche Dinosaurier in diesem Spiel war, das hinterfragte niemand der Dogmatiker. Ob ihnen bewusst war, dass die Ikonographie frappierende Ähnlichkeit mit dem Sieg des Heiligen Georg über den Drachen hatte, bleibt offen; dass damit das Heilige und das Profane neuerlich vertauscht waren zugunsten einer ideologischen Botschaft, bleibt dagegen offensichtlich.
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