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Die AfD: Gefangen zwischen Realpolitik und Träumerei

2023-06-16
Zeit zum Lesen 8 min
Eigentlich läuft es gut für die AfD. Die rechtsnationale Partei erlebt einen Höhenflug in den Umfragen und avanciert zur potenziell drittstärksten Partei des Landes. Dafür tun musste sie wenig. Die Regierungskoalition aus Sozialdemokraten, Grünen und Liberalen gibt seit Monaten ein desolates Bild ab. Die Liberalen verprellen ihre Anhängerschaft, indem sie dem linksgrünen Diktum folgen; die Sozialdemokraten bürden ihrer eigenen Klientel mit immer größeren Belastungen unannehmbare Kosten auf; und die Grünen sind mit der Graichen-Affäre in einen Skandal verwickelt.

Die Christdemokraten können als größte Oppositionspartei mit ihrem blassen Vorsitzenden Friedrich Merz kaum punkten, weil dieser viel zu häufig den Eindruck macht, sich lieber als Koalitionspartner anbieten zu wollen, statt eine eigenständige Oppositionspolitik zu betreiben. Wenn die Bundesregierung mit einer „Wärmewende“ Öl- und Gasheizungen zugunsten der Wärmepumpe ersetzen will, kommt vonseiten der CDU/CSU kein Protest, sondern nur ein Gegenprogramm, die Reform etwas abzumildern. Zudem hat die Union nach 16 Jahren vorerst ihre Glaubwürdigkeit in den Themenbereichen Sicherheit, Migration und Wirtschaft verspielt.

In der Vergangenheit sorgten insbesondere parteiinterne Querelen und von den Medien genüsslich verbreitete Interna dafür, dass die AfD vornehmlich deswegen im Gespräch blieb. Nach einer gewissen Zeit des Schweigens mehren sich die Artikel, die nach den Hintergründen des Umfragehochs fragen. Angesichts von Inflation, Preissteigerungen und Klimagesetzen bedarf die Antwort keines Universitätsabschlusses. Für einen echten Politikwechsel bieten sich aus den oben genannten Gründen nur die postkommunistische Linkspartei als Alternative zur Alternative an; wobei deren Klimapolitik in den Grundsätzen der Bundesregierung nahesteht. Die russophile Haltung im Ukraine-Krieg steht zwar im Gegensatz zur regierenden Ampel, doch dieses Programm bietet die AfD auch.

In einigen Umfragen erreicht die AfD mittlerweile 18 Prozent. In den Gebieten der ehemaligen DDR könnte sie bei einer Neuwahl stärkste Kraft werden. In Bundesländern wie Sachsen und Thüringen käme sie auf 32 bzw. 30 Prozent. Das sind seismische Verschiebungen. Die Partei gewinnt damit eine Stärke, dass man sie in der Öffentlichkeit nicht mehr ignorieren kann.

Doch trotz dieses Höhenflugs hat die Partei einige langfristige Probleme, deren Lösung unwahrscheinlich bleibt – und sie deswegen auf unbekannte Zeit von der Macht ausschließt. Die Isolation in der parteipolitischen Landschaft ist bekannt: Weder CDU/CSU noch FDP zeigen sich koalitionsbereit. Insbesondere die FDP ist durch ihre Verantwortung auf Bundesebene gefesselt. Die Christdemokraten haben eine Zusammenarbeit nicht nur kategorisch ausgeschlossen, sondern hoffen wohl insgeheim immer noch, die AfD über Zeit „austrocknen“ zu können. Dass mit dem Erwachsen einer mindestens 10 Prozent starken Rechtspartei die CDU auf ewig nur von Gnaden der linken Parteien regieren kann, nimmt sie bewusst in Kauf.

Es gibt demnach Handlungsbedarf auf Seiten der Liberalen und Christdemokraten, was ihr Verhältnis zur AfD angeht, wollen sie nicht ihr Parteiprogramm auch in Zukunft an grüne und rote Ideologien koppeln und damit ihr eigenes Wahlprogramm verwässern – was unvermeidlich zu ihrem weiteren Abstieg führen wird. Doch in erster Linie liegt der Ball zuerst im Tor der AfD. Sie hat sich mittlerweile zu einer Partei der Totalopposition entwickelt. Sie lanciert keine eigenen Aktionen, sondern reagiert stets in Konfrontation zu dem, was andere Parteien vorschlagen. Bis heute mangelt es an ihrem ideologischen Unterbau: ist sie eine liberale, eine konservative, eine populistische oder eine rechtsradikale Partei?

Solche Unbestimmtheiten zeigten sich etwa in einem Interview mit dem AfD-Chef Tino Chrupalla, der die Frage nach Abtreibung zu einer Privatsache erklärte; für andere Rechtsparteien in Europa eine unglaubliche Antwort. Sie zeigt das rein populistische Agieren der AfD, die vor allem eine säkularisierte, patriotisch bis national und sozial denkende Wählerschaft im Osten des Landes bedient. Noch spekuliert sie darauf, dass die enttäuschten Wähler in den sauren Apfel beißen und sie dennoch wählen, weil es keine Alternative gibt; mit dieser Spekulation ist sie aber längst im Denken der CDU angekommen, die ihren Wählern immer größere Zugeständnisse aufbürdete, weil es keine Alternative gab.

Inhaltlich könnten viele westdeutsche Wähler der AfD etwas abgewinnen. Doch mehr als im Osten macht im Westen der Ton die Musik. Der Westdeutsche will möglicherweise AfD-Rezepte, aber er will sie nicht im plumpen Tonfall vorgetragen bekommen, die ihn selbst verdächtig machen, im Lager der Populisten zu stehen. Zudem durchschaut man hier die Inhaltsleere hinter der Fassade. Zusätzlich gibt es einen frappierenden Punkt, der die ostdeutschen Wähler in Richtung AfD treibt, die westdeutschen dagegen stocken lässt: die Haltung der AfD im Ukraine-Krieg, die man im freundlichsten Fall als neutral werten mag.

Auch hier sind einige Äußerungen Chrupallas frappierend. So verteidigte sich der AfD-Chef im Interview mit der „Sezession“ von Götz Kubitschek, dass er sich zum Jahrestag der deutschen Kapitulation von 1945 mit dem russischen Botschafter getroffen hätte. Er wollte die Verständigung und Aussöhnung zwischen Russland und Deutschland vorantreiben. Auf die Bismarck-Zeit hinweisend erklärt er, dass Russland ein „Garant für eine konservative Ordnung“ Europas gewesen sei. Und weiter: „Je schlechter die Beziehungen wurden, desto schlechter stand es um Europa. An diese guten Beziehungen müssen wir anknüpfen.“

Das sind keine realpolitischen Äußerungen, sondern aus der Vergangenheit auf die Gegenwart projizierte Märchenstunden. Die Völker Mittelosteuropas profitierten so gut wie gar nicht von den guten russisch-deutschen Beziehungen, deren Auswirkungen hier nicht ausgebreitet werden müssen. Eine konservative Politik verfolgte Russland zudem nur im Eigeninteresse: die Konservierung der Polnisch-Litauischen Union war Sankt Petersburg kein Anliegen. Andererseits nutzte Russland die spürbare Schwäche des Osmanischen Reiches aus und provozierte damit gleich mehrere Kriege. Nun mag man die Befreiung Bulgariens von den Türken mit Sicherheit zu den positiveren Erscheinungen des russischen Imperialismus rechnen; es wäre aber naiv, in panslawistische Ideologien der Vergangenheit ein Ordnungsstreben hinzuinterpretieren, wenn dieses vornehmlich der Ausweitung der eigenen Macht geschuldet war.

Doch nicht nur außenpolitisch zeigt die AfD mit ihrem Chef ein bemerkenswertes Bild. Auch innenpolitisch deutet Chrupalla an, dass die Sicht auf die Vergangenheit zu revidieren sei. „Die Alternative für Deutschland ist angetreten, um die Probleme der Gegenwart zu lösen und die Zukunft Deutschlands zu gestalten“, sagt Chrupalla. „Nach und nach zeigt sich, dass dazu auch Geschichtspolitik nötig ist. Wie wir uns zu Abschnitten unserer Geschichte stellen, das wird die Partei in den kommenden Jahren klären müssen.“ Heißt das, in Deutschland gab es bisher keine geschichtspolitische Aufarbeitung, an der man sich ausrichten kann?

Es sind solche Einlassungen, die für westdeutsche Wähler ein Problem darstellen, weil hier ein über Jahrzehnte gewachsener Konsens aufgelöst wird, der grundlegend für das bundesrepublikanische Denken ist. Dazu gehört auch die Integration Deutschlands in der NATO und die Anbindung an die USA. Die Mehrheit der Deutschen steht hinter diesem Konsens, so sehr ihn manche in der AfD beklagen mögen. Und so lange sie diesen Konsens anzweifelt, bleibt sie wie die Linkspartei eine Partei am Rand. Es sind Fakten, die man ebenso wenig anerkennen möchte wie den Umstand, dass die AfD sich in einer gesamteuropäischen Parteifamilie befindet, in der man durchaus wahrnimmt, was die deutschen Rechten machen. Etwa, wenn Dimitrios Kisoudis als Referent Chrupallas fordert, dass „Mitteleuropa“ mit Russland verhandeln und eine konträre Position zu Polen einnehmen müsse, das mit seiner Drei-Meere-Initiative einen „Keil“ in den Kontinent treibe.

Die Befürworter dieses Programms halten ihre Träumereien für Realpolitik. Dabei sind sie das genaue Gegenteil. Sie erträumen sich ein Mitteleuropa, das spätestens seit dem Untergang Österreich-Untergangs als eigentlichem Träger der Mitteleuropa-Idee nicht mehr existiert. Weder die Benelux-Staaten noch Tschechien oder Österreich wären für solche Phantasien zu gewinnen. Auch für die politischen Verbündeten in Europa gilt Ähnliches. Die Lega ist auf den Kurs der transatlantischen Fratelli d’Italia eingeschwenkt, die Finnenpartei geht einen ähnlichen Weg, und die polnische Haltung ist seit Jahren klar. Trotz ihrer abwartenden Haltung im Ukraine-Krieg sind auch die Ungarn als bodenständige Pragmatiker für solche deutschen Traumschlösser kaum zu gewinnen. Selbst wenn die AfD daher bei Bundestagswahlen oder auch Europa-Wahlen mit 20 Prozent abschneiden würde – mit wem wollte sie koalieren?

 

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