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Die Schwäche der CDU

2023-10-05
Zeit zum Lesen 6 min
Die deutsche Christdemokratie ist nicht nur ein nationaler, sondern auch ein europäischer Faktor. Sie war lange Zeit ein Beispiel eines lebenden Fossils: Denn konfessionell geprägte Parteien haben sich im Rest des Abendlandes längst überlebt. Die derzeitige Krise der christlich-demokratischen Union wirft die Frage auf, ob auch der CDU ein ähnlicher Weg bevorsteht wie der italienischen „Democrazia Cristiana“.

Die Frage nach dem Schicksal der CDU ist deswegen von Anfang an auch ein über Deutschland hinausreichendes Politikum. Die Partei hat sich zwar längst von nahezu allen Positionen ihres legendären Übervaters emanzipiert; jedoch lebt der Europa-Gedanke auf obskuren Pfaden immer noch fort. Freilich: mit der Säkularisierung Europas und der Säkularisierung der Christdemokratie ist von der heißen Idee eines christlich-abendländischen Europas in der Gestalt einer modernisierten Wiederauflage des Karolingerreiches nichts mehr in der Union übriggeblieben. Von Chesterton stammt der bekannte Spruch, dass wenn die Leute nicht mehr an Christus glauben, sie keineswegs nicht mehr „nichts“ glaubten, sondern vielmehr alles Mögliche glauben; und so verwechselt auch die Christdemokratie den Glauben an ein geeintes Europa mit dem Glauben an eine Brüsseler Bürokratie. Sie hat begonnen, die Kultur durch eine selbst konstruierte Politik zu ersetzen, die ihre Manifestation in einem Brüsseler Moloch findet. Theologisch gesprochen hängt sie also einem Götzenkult an, der nicht mehr die eigentliche Europa-Idee in den Mittelpunkt stellt, sondern die errungene politische Organisation namens Europäische Union.

Das bringt allerdings auch die Brisanz auf den Punkt, die mit der Schwäche der CDU einhergeht. Sie ist der eigentliche deutsche Stützpfeiler der Europäischen Union. Die Sozialdemokratie hatte nach dem Krieg zuerst eine nationale Politik betont und später eine Ostpolitik betrieben, die eher an einem Ausgleich zwischen Ost und West interessiert war als am eigentlichen europäischen Projekt. Diese Traditionslinie sieht man sogar noch in der Schröder-Ära und bei Außenministern wie Frank-Walter Steinmeier. Mit der vornehmlich katholischen Europa-Idee konnte die SPD im Grunde wenig anfangen: Wie die Grünen sehen sie hier vornehmlich eine vorteilsbringende Struktur, um etatistische und zentralistische Ideen voranzubringen, oder Themen über Brüsseler Bande zu spielen, die man nachher daheim umsetzen kann. Die säkulare Entleerung zugunsten neulinker, „woker“ Ideale kommt den Linken zupass, die damit de facto eine neue EU-weite Ideologie positionieren wollen, die die alte Europa-Idee längst verdrängt hat.

Wie auf nationaler Ebene hat die CDU auch auf europäischer Ebene dieses Programm viel zu häufig laufen lassen. Sie hat sich in Deutschland mit der Abschaltung der Kernkraft bzw. der „Energiewende“, der Ausweitung der Ehe auf Homosexuelle („Ehe für alle“), der Öffnung der Grenzen für unbegrenzte Massenmigration und der Förderung der „Verkehrswende“ – und der damit einhergehenden Abschaffung des Verbrennungsmotors – nahezu immer auf die Seite des linksdominierten Zeitgeistes gestellt. Die 16 Jahre Angela Merkel, in denen die Union alles Mögliche tat, nur eben keine Politik für die eigene Wählerschicht, rächt sich nun umso bitterer.

Denn ihre Inhaltslosigkeit und den offenen Verrat an ihren Idealen konnte die Union über Jahre mit dem Nimbus der Kanzlerin überdecken. Dabei war Merkel in Deutschland bei den grünaffinen Milieus der Journalisten und Meinungsmacher deutlich beliebter als bei manchem Christdemokraten. Doch Merkels Kurs, die mediale Stimmung aufzunehmen und damit Politik zu machen, schützte sie jahrelang, sodass auch im Volk die Überzeugung bestand, dass Merkel nicht nur Sicherheit und Stabilität garantierte, sondern de facto alternativlos war. Das ist das Paradoxon der CDU: Die Frau, die für die komplette Entleerung der CDU verantwortlich war (personell wie inhaltlich) war zugleich die einzige Karte, mit der die CDU überhaupt noch Stimmen bekam. Die CDU ordnete sich Merkel unter und wurde damit die Merkel-Partei. In dem Moment, da Merkel weg war, bröckelte die Fassade – und die Partei stand nackt dar.

Um ein aussagekräftiges Beispiel für den „falschen Erfolg“ Merkels zu geben: Im Jahr 1998 erlitt die CDU/CSU mit ihrem damaligen Kanzler Helmut Kohl eine krachende Wahlniederlage. Sie erhielt nur 35,1 Prozent. Als größten Wahlerfolg Merkels feiert die deutsche Presse bis heute das CDU-Ergebnis von 2013: 41,2 Prozent. Doch in absoluten Zweitstimmen – in Deutschland geht die Zweitstimme an die Partei, die Erststimme an den Direktkandidaten – war dieser triumphale Wahlsieg viel bescheidener, als ihn die Medien darstellten. 1998 erhielt die CDU von Helmut Kohl rund 14,1 Millionen Stimmen, die Schwesterpartei CSU kam auf 3,3 Millionen Stimmen. 2013 holte die CDU 14,9 Millionen Stimmen, die CSU 3,2 Millionen Stimmen. In absoluten Zahlen hat die CDU/CSU daher nur leichte Gewinne erzielt. Vielmehr war der „Wahlsieg“ jenem berüchtigten „Mehltau“ der Amtszeit Merkels zu verdanken, die mit einer asymmetrischen Wahlkampfführung dafür sorgte, dass möglichst viele Wähler zuhause blieben und die CDU/CSU Gewinnerin unter den Verlierern war. Heißt: Selbst auf ihrem Zenit war das Gerüst wacklig, auf dem der Erfolg der Merkel-CDU stand.

Um bei den nackten Zahlen zu bleiben: Bei der letzten Bundestagswahl erreichte die CDU nur noch 8,7 Millionen Zweitstimmen (CSU: 2,4 Millionen). Der Trend, dass das Zeitalter der Volksparteien vorbei ist, spielt dabei mit Sicherheit auch eine Rolle – der deutschen Sozialdemokratie geht es kaum besser. Doch es kommen spezifische Tendenzen hinzu, die es der Union derzeit besonders schwer machen. Die amtierende linke Bundesregierung unter dem Sozialdemokraten Olaf Scholz wäre das passende Ziel, um verlorenen Grund wiedergutzumachen; die „Ampel“-Koalition gilt bereits als Pannen-Koalition. Die CDU hat, um einen „Neuanfang“ zu wagen, mit Friedrich Merz einen neuen Parteivorsitzenden gewählt, der in der Union selbst als alter Merkel-Gegner gilt. Zugleich haben die Christdemokraten vor kurzem Carsten Linnemann zum Generalsekretär bestellt – ebenfalls kein Merkel-Freund und aus der mittelständischen Vereinigung der Union kommend; dabei handelt es sich um einen Teil der Partei, der in der Merkel-Ära besonders vernachlässigt wurde. Eigentlich stünden die Zeichen für die Union damit gut.

Doch trotz Weichenstellungen und einer Bundesregierung, die günstige Vorlagen zur Oppositionsarbeit gibt, mag die CDU nicht aus ihrem Tief herauskommen. Merz gilt als Zauderer. Die immer noch stark vertretenen Merkel-Anhänger in der Partei will er nicht verprellen. Vorlagen wie etwa die Debatte um ein ruinöses Heizgesetz, dass Millionen deutscher Hauseigentümer belastet, hat Merz vorbeiziehen lassen; die CDU selbst wollte das Gesetz auch nicht aufhalten, sondern es bloß etwas abmildern. Auf ähnliche Weise hat die CDU ein linkes Projekt nach dem anderen durch den Bundestag ziehen lassen – böse Zungen kommentierten, dass man sich mögliche, spätere Koalitionspartner nicht verprellen möchte. Die CDU ist in der Opposition, sieht aber ihre Rolle als bloße Regierung in der Reserve. Trotz der zahlreichen politischen Momente, in denen dies möglich gewesen wäre, hat sie keine Akzente gesetzt. Aus den eigenen Reihen musste sich Merz sogar anhören lassen, tatenlos dabei zuzuschauen, wie die linke Regierung Deutschland zu einem „Umerziehungslager“ umbaut, während er tatenlos dabei zusehe – oder gar indirekt mithelfe.

Auch Linnemann, der zweite Hoffnungsträger, hat bisher diejenigen Christdemokraten getäuscht, die auf ein Ende der Merkel-Ära hofften. Statt die Konfrontation mit der Bundesregierung zu suchen, streckt er dieser die Hand aus, um gemeinsam gegen die AfD vorzugehen. Den CDU-Vordenker Andreas Rödder hat er düpiert, als dieser es wagte, zumindest über indirekte Kooperationen mit der AfD nachzudenken. Alles in allem: Auch zwei Jahre nach dem Ende der Ära Merkel wagt es keiner, das Erbe der für die CDU so schmerzhaften Jahre aufzuarbeiten und dem Wähler zu vermitteln, dass sie nun einen neuen Kurs einschlägt. Vielmehr droht sogar, dass sich einige Merkel-Anhänger langfristig in der Partei durchsetzen können, um die Ausrichtung nach links zu manifestieren und das Zusammengehen mit Grünen und SPD zur Regel zu machen.

Was es bräuchte, um das zu verhindern, wäre eine saubere Aufarbeitung und Abwendung von der Figur Angela Merkel. Schon einmal stand die Union vor dem Abgrund, verursacht von einer Spendenaffäre Helmut Kohls. Damals drohte der CDU das Schicksal der italienischen „Democrazia Cristiana“. Gerettet wurde die Union nur dadurch, dass sie sich komplett von Kohl und der damals bestehenden CDU-Führung distanzierte – inklusive eines Dolchstoßes, der von einer engen Vertrauten ausging, um Kohl endgültig loszuwerden. Dass diese Vertraute ausgerechnet Angela Merkel selbst war, und nun niemand diesen Dolchstoß wagt, dürfte der CDU letztlich zum Verhängnis werden.

 

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