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Der deutsche Konservatismus und der sterbende Europa-Gedanke

2023-09-12
Zeit zum Lesen 8 min
Deutschland hat für Jahrhunderte eine Mauer durchzogen. Während heutzutage fast nur noch die Berliner Mauer und ihre deutsch-deutsche Entsprechung an der Grenze zwischen der Bundesrepublik und der DDR in der politischen Sphäre Raum greift, wenn es um den Unterschied zwischen den Mentalitäten im Wahlverhalten geht, bleibt eine ebenso prägende Grenze nahezu vergessen. Der römische Limes steht nicht nur für den Einflussraum der lateinischen Kultur; er überlappt sich heute auch in weiten Teilen mit dem katholischen Teil Deutschlands. Von den großen europäischen Ländern ist Deutschland das einzige, das nicht nur territorial, sondern auch konfessionell geteilt war; mit Auswirkungen, die im europäischen Vergleich, im Verhältnis zu Europa und dem traditionellen Europa-Gedanken nicht zu wenig unterstrichen werden können.

 

Es sollte nicht verwundern, dass es die CDU/CSU war, die in der Nachkriegszeit den Abendland-Gedanken als Klammer der „freien“ europäischen Völker – das heißt: jener Staaten, die nicht unter sozialistische Regime geraten waren – lancierte, nachdem über zwei Jahrhunderte der Nationalismus den deutschen (und nicht nur diesen) Blick auf die Welt dominiert hatte. Ab der Märzrevolution 1848, aber auch im Kaiserreich und der Weimarer Republik hatte der Nationalliberalismus als dessen Spielart vielleicht nicht immer die Wahlurnen beherrscht, war jedoch explizit oder implizit der gemeinsame Nenner der jeweils etablierten Regierungen gewesen.

Selbst in Zeiten, in denen die Sozialdemokratie als stärkste Partei hervorgetreten war, dominierte diese Richtung: Noch der erste Parteivorsitzende der SPD nach dem Zweiten Weltkrieg, Kurt Schumacher, kann trotz Parteibuch als Vertreter dieser nationalliberalen Strömung gewertet werden. Schumacher erkannte in der Sowjetunion keinen möglichen ideologischen Verbündeten und auch in den Kommunisten lediglich die Steigbügelhalter einer „auswärtigen Macht“. Schumacher, der gebürtige Preuße, wollte lieber ein geeintes, nationales, sozialistisches Deutschland in den Grenzen von 1937, denn einen westgebundenen Teilstaat. Nicht nur deswegen kann er als Gegenbild zum rheinischen Katholiken Konrad Adenauer gelten.

Adenauer entstammte einer Minderheit im Deutschen Reich, die ab 1949 plötzlich zur dominierenden Kraft wurde. Auf das preußische Berlin folgte das rheinische Bonn als provisorische Hauptstadt; gelegen in einem römischen und fränkischen Gebiet, welche die eigentliche Keimzelle deutscher Kultur war. Kritiker – nicht nur in der Opposition – hielten Adenauer vor, aus Deutschland einen katholischen Rumpfstaat zu machen, gewissermaßen einen separierten Rheinstaat, und zogen damit direkte oder indirekte Linien zu den französischen Träumen vor dem 1. Weltkrieg, Deutschland wie im Napoleonischen Zeitalter zu einer Sammlung abhängiger Kleinterritorien in fremder Abhängigkeit herabzuwürdigen.

Es handelt sich um wirkmächtiges Narrativ, das insbesondere im 19. Jahrhundert als Schreckensnarrativ galt, nicht zuletzt betrieben von der deutsch-preußischen Geschichtsschreibung, die den „Sieger der Geschichte“, nämlich das Deutschland-einende Preußen, als Garanten deutscher Freiheit und einzig legitimen Hegemon Deutschlands darstellen wollten. Das war im Übrigen nicht nur gegen das auswärtige Frankreich gerichtet, sondern auch gegen das bis 1866 Deutschland dominierende Österreich, das von Bismarck nach dem gewonnenen Deutsch-Deutschen Krieg aus der deutschen Politik endgültig herausgezwungen wurde.

Als Erinnerung blieben und bleiben solche Narrative jedoch bis heute äußerst frisch im Gedächtnis, insbesondere bei vielen deutschen Konservativen, die sich nicht in der Tradition Adenauers sehen oder die Westbindung als Fehlentscheidung begreifen. Solche Vorwürfe muten nicht nur angesichts der vergangenen Zeit und der Erfolgsgeschichte der jungen Bundesrepublik merkwürdig an; sie erscheinen nahezu absurd, sieht man auf die Alternativen, die es für das Nachkriegsdeutschland gegeben hätten. In einer Verkennung der Bedeutung der Stalinnoten halten diese viele politische Träumer bis heute für ein realistisches Angebot. Es handelt sich dabei um eine Note des sowjetischen Diktators, die Einheit Deutschlands anzubieten, wenn dieses neutral bliebe. Dass es sich dabei um ein bloßes Störmanöver kurz vor der Unterzeichnung der EVG-Verträge handelte, wollen viele Deutsche bis in den Wissenschaftsbetrieb hinein nicht glauben.

Mit der Öffnung der sowjetischen Archive hat sich zwar endgültig herausgestellt, dass es vonseiten Stalins niemals weitergehende Pläne gab, die Wiedervereinigung Deutschlands zuzulassen. Das hindert aber bis heute eine ganze Reihe von Revisionisten nicht daran, Adenauer die Schuld an der deutschen Teilung anzulasten, und ihm einen diffusen rheinischen Separatismus zu unterstellen. Auch hier gilt: die preußisch-protestantische Seele Deutschlands nördlich des Limes lebt fort, und sie schafft es nicht, ihren Frieden mit der anderen Teilseite zu schließen. Die faustische Spaltung „zweier Seelen in der Brust“ lebt im deutschen Konservatismus fort – und dies gilt nicht nur bei der Deutung der Vergangenheit, sondern auch der aktuellen Politik. Das betrifft speziell das Verhältnis zu Europa.

Denn Adenauers Erbe reklamiert die CDU. Er gilt als Übervater der Union, obwohl seine Ideen so gut wie keine Substanz mehr in der Partei haben. Adenauer war in der Hinsicht ein Konservativer, weil seine politischen Überzeugungen in vielerlei Hinsicht einen metaphysischen Ursprung hatten. Sie gründen im rheinischen Katholizismus. Adenauer, der bereits Kölner Oberbürgermeister im Kaiserreich war, wusste sehr genau um die Stellung der Katholiken im damaligen Preußen-Deutschland. Der politische Katholizismus des Reiches zeichnete sich in vielen Belangen als höchst ultramontan aus, insbesondere nach den Erfahrungen des Kulturkampfes zwischen Bismarck und dem Heiligen Stuhl. Katholiken wurden der Vorwurf gemacht, sich zuerst nach Rom und dann nach Berlin zu orientieren.

Das Rheinland indes hatte in seiner langen Geschichte häufig eine Mittelposition. Historisch betrachtet war es das eigentliche Herkunftsgebiet des mittelalterlichen Deutschen Reiches, symbolisiert durch Aachen als Hauptstadt Karls des Großen oder durch Speyer als Stätte der Salier. Vier der sieben Kurfürsten Deutschlands residierten ursprünglich links des Rheins. Ab dem 19. Jahrhundert und der Dominanz Preußens wurde das linksrheinische Territorium jedoch nicht mehr als Herzkammer, sondern als Randgebiet des Reiches wahrgenommen, was nur dadurch aufgebrochen wurde, dass das Rheinland nördlich der Eifel mit Beginn der Industrialisierung eine wirtschaftlich nicht zu negierende Bedeutung erhielt.

Das war nicht nur das Geschichtsbild, aus dem sich das Denken Adenauers speiste, sondern auch der Ausgangspunkt der Geschichtsbetrachtung Helmut Kohls, der als Pfälzer ebenfalls einer rheinisch-katholischen Familie entstammte. Es ist überliefert, dass Kohl Staatsgäste in den Speyrer Dom einlud, nicht nur, um das reiche mittelalterliche deutsche Erbe zu zeigen, sondern auch, weil eben jenes mittelalterliche Reich Frieden und Ordnung in Europa gewährleistet hatte. Die Europa-Idee Kohls war demnach eine ebenso von metaphysischem Inhalt getragene; der Euro war nicht vornehmlich wirtschaftlich gedacht, sondern entstammte Ordnungsgedanken. Europa – und insbesondere Deutschland – sollte so an das neue Währungsmittel gebunden sein, dass es nicht mehr zerbrechen konnte. Dass die Kohl’sche Idee nur wenig mit der später real-existierenden Brüsseler Europakratie zu tun hatte, zeigte sich nicht zuletzt daran, dass Kohl bis zu seinem Tod den ungarischen Premier Viktor Orbán für einen seiner engsten Verbündeten hielt. Kohls Europa-Idee war wie die von Adenauer wohl eher von einem karolingisch-katholischen Substrat inspiriert als von einem morbiden Verwaltungsapparat, der seiner selbst willen besteht.

Es ist nicht ohne Ironie, dass die CDU unter Angela Merkel, die als protestantische Pfarrerstochter aus dem Osten keinerlei Bezug zu diesen metaphysischen Vorstellungen von Adenauer und Kohl hatte, dieses Erbe de facto in den Mülleimer der Geschichte zugunsten eines amorphen Imperiums verfrachtete, das linksprogressive Ideen, immer mehr Bürokratie und zuletzt einen Zensur- und Bestrafungsmechanismus befördert hat. Merkel hat in ihrer Kanzlerschaft immer wieder den europäischen Gedanken betont, konnte aber aufgrund ihrer Herkunft gar nicht erfassen, was etwa ihr Ziehvater Kohl unter „Europa“ verstanden hat. De facto war Merkel als im Sozialismus aufgewachsene Protestantin aus dem Osten weitaus mehr Vertreterin eines alten preußischen Modells, als viele bis heute verstehen wollen. Mit ihr ist Bonn zuletzt erst wirklich „wieder in Berlin“ angekommen. Nicht zu Unrecht fällt in ihre Ära der Eindruck, die Deutschen nutzten die Europäische Union vor allem zur Durchsetzung eigener wirtschaftlicher und politischer Interessen, mag es nun in Griechenland bei der de facto Enthauptung eines souveränen Landes, in Italien bei der Demission Silvio Berlusconis, oder in Polen und Ungarn bei der Förderung „woker“ Ideen wie ungebremster Zuwanderung gewesen sein.

Wo nun stehen die Erben des wahren konservativ-europäischen Geistes? Die bittere Wahrheit lautet: In Deutschland findet man sie nicht. Während etwa in den romanischen Ländern ein positiver Rückbezug auf das römische Imperium oder zumindest das christliche Mittelalter als gemeinsamer Bezugsrahmen genommen werden kann, ist das in Deutschland kaum möglich. Die nach links gedriftete CDU kann mit christlichen Wurzeln nichts anfangen, widersprächen sie doch den Vorstellungen der LGBT-Community, der Familienpolitik oder der linksliberalen Agenda.

Und die AfD? Sie hat Probleme wie jede Sammlungsbewegung, die nach Jahrzehnten der Orientierungslosigkeit ehemals parteigebundener Vertreter plötzlich ein Refugium bietet. Sie ist im Kern keine konservative, sondern eine nationalliberale Partei. Schon bei ihrer Gründung, als sie noch als „Professorenpartei“ verspottet wurde, war die europäische Frage vornehmlich eine Euro-Frage. Einige wollten den Ausstieg aus dem Euro; andere eine langsame Abwicklung; wiederum andere einen Nord-Euro. Die Ressentiments gegen die „faulen“ Südländer (zu denen je nach Laune auch Frankreich gehört) und die eigene Identifikation als „Zahlmeister Europas“ lässt erkennen, dass Europa in einer ähnlichen Weise wahrgenommen wird wie in der Merkel-Union: nämlich als Instrument, als Kosten-Nutzen-Rechnung, jedoch hier nicht unter positiven, sondern negativen Vorzeichen. Deutschland also wieder separierter Teilstaat unter ausländischer Willkür?

Diese nationalliberale Strömung, die weder mit der christlichen noch der römischen Identität etwas anfangen kann, dominiert zwar immer noch in vielen Teilen, doch hat sich die Vorstellung, wie Europa aussehen soll, noch weiter fragmentiert. Bei den Nationalkonservativen, die ideengeschichtlich in der preußisch-protestantischen Tradition stecken, kann weder ein positiver Bezug zum Römischen Imperium noch zum universalen Katholizismus aufgestellt werden. Und bei dem stärker werdenden völkischen Element herrscht nach einer Phase des „Ausgleichs der Identitäten“ (regional, national, zivilisatorisch) nunmehr eher ein Schollenbewusstsein vor. Zwischen der nationalen und völkischen Schiene wiederum tummeln sich Geister, die sich durch diffuse revisionistische Anschauungen auszeichnen, die Adenauers Wirken verurteilen oder sich je nach Gusto mal in einer neuen Reformation in Luthers Sinne oder gleich als Arminius gegen das EU-Imperium stilisieren.

Für den Historiker ist es nicht selten faszinierend, welche längst vergessene Propaganda des 19. Jahrhunderts fortwirkt, ob nun in einer spezifischen Renaissance der Frankophobie – schließlich werde die EU von Paris aus gesteuert – oder einer Widergeburt der Arroganz gegenüber den mediterranen Völkern. Viele von ihnen trachten wohl auch danach, Adenauer ein halbes Jahrhundert nach dessen Tod zu besiegen. Dass heute der säkularisierte Osten Deutschlands aufgrund seines Wählerpotenzial die Strategien der AfD bestimmt, tut sein Übriges.

Zwar behauptete ein Kandidat der Europa-Liste der AfD kurz nach dem Parteitag, die Anwesenheit europäischer Vertreter würde den Mythos, die AfD sei in Europa isoliert, als Lüge entlarven; doch sagte weniger die Anwesenheit denn die Abwesenheit gewisser europäischer Verbündeter viel mehr über den Zustand der AfD und ihre Europa-Vision aus, als sie möglicherweise wahrhaben will. Die Ungewissheit bezüglich der „Europäizität“ der AfD sollte aber nicht den viel wichtigeren Punkt vergessen machen: nämlich, dass das Erbe von Adenauer und Kohl sowohl in der Union wie auch der AfD unbeachtet bleibt. Während die CDU der EU-Idee nachtrottet, ohne genau zu wissen, was eine echte Europäische Union ausmachen sollte, zeigt sich die AfD so zerrissen wie der deutsche Konservatismus selbst. Vielleicht bleibt der politische Abendlandgedanke in Deutschland auch nur eine bloße Episode: Die Zeiten, in denen rheinische Katholiken die Ausrichtung Deutschlands bestimmten, sind seit dem Fall der „zweiten Mauer“ wohl endgültig vorbei.

 

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