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Ein „Putsch“ gegen die Bundesregierung, den es nie gegeben hat?

2023-05-18
Zeit zum Lesen 8 min
Deutschland am Abgrund – nein, so titelten die deutschen Blätter nicht etwa, als das volle Ausmaß von Inflation und Preissteigerung bekannt wurde; nicht, als die Konsequenzen der Energiekrise greifbar wurden; nicht, als die Migrationskrise ihren Höhepunkt erlangte; und auch nicht in vielen anderen Fällen, wo der vermeintliche Untergang Deutschlands zumindest einige fassbare Zahlen besessen hätte. Vielmehr überschlugen sich Fernseh- und Printmedien mit überbordenden Schlagzeilen, als im Dezember das verrückte Treiben einer aus Rentnern, Verschwörungstheoretikern und Reichsbürgern zusammengesetzten Clique publik gemacht wurde.

Folgen wir zuerst dem Narrativ der deutschen Medien. Demnach war Deutschland am 7. Dezember 2022 nur knapp einem Staatsstreich entgangen. Eine gut organisierte Bande aus der rechtsextremen Szene habe versucht, einen „Putsch“ anzuzetteln. Sie hätten Waffen und Geld gehortet. 500.000 Beamte waren deswegen im Einsatz. Ihr Ziel: die Abschaffung der Bundesrepublik und die Installation eines Prinzen aus dem Hause Reuß. Die sozialdemokratische Bundesinnenministerin Nancy Faeser äußerte zum Schluss: „Unsere Demokratie bleibt wehrhaft! Mit dem größten Anti-Terroreinsatz unserer Geschichte wurde ein Staatsstreich verhindert.“

Man muss sich derlei Pathos vor Auge führen. Die Medien inszenierten den Vorfall als historisch so herausragend, dass die Catilinarische Verschwörung unter Cicero zu einer bloßen Randnotiz geriet. Dass die Aktion so viel Anerkennung erfuhr, war vor allem den Komplexen einer linksgebürsteten Medienlandschaft zu verdanken, die an jeder Ecke den nächsten Nationalsozialisten wittert, der sich nichts sehnlicher wünscht als die Wiedererrichtung des Vierten Reiches. Diese wilde Paranoia sah sich nun in diesem Vorfall bestätigt.

Dabei gab es gleich mehrere Merkwürdigkeiten, die den vermeintlichen Putsch von Anfang an als unglaubwürdig erscheinen ließen. Da war bereits die Deutung als „Putsch“: üblicherweise braucht es bei einem Putsch eine Beteiligung des Militärs. Und zwar nicht diejenige zweitrangiger Bundeswehroffiziere, sondern vielmehr ihrer organisierten Spitze. Wie ein klassischer Militärputsch funktioniert, haben die Türkei und mehrere südamerikanische Staaten im 20. Jahrhundert gezeigt. An der Farce, die die Medien zusammen mit den „Verschwörern“ inszenierten, war niemals auch nur eine einzige einflussreiche Person beteiligt. Vielmehr hatte es sich um völlig unbekannte und unwichtige Persönlichkeiten gehandelt, die ihre Impotenz mit größenwahnsinnigen Fantasien anfüllten.

Die Idee, dass eine Monarchie in Deutschland wiedererrichtet werden könnte, dazu mit einem viertklassigen Möchtegernkönig – der ausgesuchte Prinz Heinrich von Reuß entstammt einer bloßen Seitenlinie des ehemaligen herrschenden thüringischen Hauses – an der Spitze, dürfte bereits alles über die Verschwörer aussagen, was man wissen muss. Vor wenigen Jahren hätte man sie nicht in die Untersuchungshaft, sondern lediglich ins Sanatorium überführt. Teilnehmer der Konspiration behaupteten gar, mit Außerirdischen gesprochen zu haben.

Der Begriff „Reichsbürger“ leitet sich davon ab, dass die „Putschisten“ behaupten, dass das Deutsche Reich 1945 nicht untergegangen sei, sondern fortexistiere. Ihre Vertreter verstehen sich daher nicht an das Recht der Bundesrepublik gebunden; sie erkennen diese nicht an, manche betiteln sie als bloße „GmbH“. Viele zeichnet dabei weniger ein nazistisches, denn libertäres Denken aus: Sie sehen ihre Lebensräume als selbstverwaltete Zonen, die sie mit Waffengewalt absichern wollen.

Ironischerweise beruht ihre Grundthese dabei auf einer sozialistischen, keiner rechten These: es waren die DDR und deren kommunistische Kader, die den Untergang des Deutschen Reiches behaupteten und die Bundesrepublik wie die DDR als „Nachfolgerstaaten“ beurteilten. Die Bundesrepublik hat sich stets als „teilidentisch“ zum Deutschen Reich verstanden, heißt: es ist nicht bloßer Nachfolger, sondern es ist das Reich mit Einschränkungen, von denen der territoriale Umfang und der Name die bekanntesten sind. Das zeigt sich nicht nur in verfassungstechnischen Theorien, sondern im bloßen Umstand, dass die Bundesrepublik nicht alle Verträge nach 1949 neu schließen musste, und alle Rechten und Pflichten, die sie damals übernehmen konnte, auch annahm und übernahm.

Diese Paradoxa sind allerdings üblich im Reichsbürgerdenken, das vom Bundesverfassungsschutz (dem Inlandgeheimnis der Bundesrepublik) trotz kaum verfügbarer Anhaltspunkte als „rechtsextrem“ tituliert wird, obwohl ideologisch eine solche Eindeutigkeit kaum festgestellt werden kann. Es gibt keine nachweisbare historische Genese, die eine Linie zwischen nationalsozialistischem Denken und dem Reichsbürgergedanken nachweisen kann. Vielmehr stellt es ein diffuses Sammelsurium dar, zu dem Außerirdische, Monarchismus, Trump- und Putinverehrung ebenso gehören wie staatskritisches, esoterisches, antikatholisches und antikapitalistisches Gedankengut.

Die Denunziation als „rechter Putsch“ hat aber offenbar ganz klare Gründe. Die Rentnertruppe kommt der linken Bundesregierung entgegen. Indem Medien und Politik die Sache groß aufbliesen, stellte man die verwirrten, alten weißen Männer als neue RAF dar, die jederzeit dazu in der Lage wäre, Terroranschläge und Geiselnahmen wie die Baader-Meinhof-Bande zu begehen. Das ist deswegen interessant, weil die Bundesrepublik der 1970er Jahre mit Biegen und Brechen harte Gesetze zur Verfolgung der roten Truppe erließ, um ihrer habhaft zu werden – als Reaktion auf solche Fälle wie etwa die Entführung und Ermordung von Hanns Martin Schleyer.

Im Falle des angeblichen Reichsbürger-Putsches reagiert der Staat jedoch genau umgekehrt: er unterstellt einer Gruppe, die nicht ansatzweise die Taten des „Deutschen Herbstes“ begangen hat, dass sie genau diese begangen hätte, wenn man sie hätte gewähren lassen; und aufgrund dieser unterstellten Taten hat die derzeit regierende links-liberale Bundesregierung neue Gesetze angekündigt.

Denn obwohl mittlerweile immer deutlicher wird, dass es sich bei der Aktion um eine PR-Show gehandelt hat, bleiben Gesetzesentwürfe wie etwa die Verschärfung des Beamtenrechts bestehen. Staatsdiener sollen in Zukunft schon bei bloßem Verdacht des Rechtsextremismus aus ihrem Amt entfernt werden können. Heißt: der Staat muss nicht erst die Schuld eines Beamten beweisen, dass dieser tatsächlich verfassungsfeindlich agiert; sondern der Beamte muss seine Unschuld vor Gericht nachweisen, damit er wieder eingesetzt werden kann. Diese Umkehr der Beweislast ist in der Bundrepublik in dieser Art und Weise einmalig. Der Verfassungsstaat wird zum Gesinnungsstaat. Er kann in Zukunft missliebigen konservativen Beamten unterstellen, sie würden in Wirklichkeit „Reichsbürgerdenken“ teilen, um diese dann durch konforme linke Staatsdiener ersetzen. Der Willkür sind keine Grenzen gesetzt.

Dabei fällt aber nicht nur der Staat mit einer zweifelhaften Rolle auf. Auch die Medien hatten jeden, der Zweifel an der Geschichte vom Reichsbürgerputsch äußerte, zugleich als Sympathisanten gebrandmarkt. Dass bereits bei der Festnahme des gescheiterten Thronanwärters Heinrich von Reuß so gut wie alle großen Medien anwesend waren, hinterließ Zweifel daran, wie „geheim“ diese „Geheimoperation“ wirklich war. Ganz offensichtlich hatte man der Presse Hinweise gegeben, denn die ersten großen Artikel waren in Windeseile geschrieben. Man ließ es sich dabei nicht nehmen, die Jagdausrüstung der Festgenommenen zum Waffenarsenal zu deklarieren – wozu auch eine Armbrust gehörte.

Keine Frage: Die Reichsbürger sind unberechenbar und womöglich gefährlich. Die staatliche Bedrohung, als die man sie am 7. Dezember 2022 dargestellt hat, sind sie aber definitiv nicht. Denn das Medieninteresse hat nach wenigen Wochen rapide abgenommen. Nach monatelanger Untersuchungshaft gibt es so gut wie keine Ergebnisse. Gegenüber der schweizerischen NZZ äußert ein hochrangiger deutscher Nachrichtendienstexperte, dass es einen „blöden politischen Druck“ gebe, mit aller Härte gegen „Rechte“ vorzugehen, auch dann, wenn die Faktenlage dürftig sei.

Ein weiteres unangenehmes Detail: nach jetzigem Stand sieht es so aus, dass sich die Gruppe möglicherweise kurz vor Zugriff trennen wollte. Es gab klare interne Differenzen. Griffen die Beamten womöglich deswegen zu, weil ein Schreckgespenst, dass man monatelang bespitzelte, auseinanderzubrechen drohte? Das ist Spekulation. Aber die Frage ist mittlerweile nicht mehr, wie gefährlich die Reichsbürger sind. Sondern ob der deutsche Staat aus einem Bedrohungsmoment Kapital geschlagen hat, um zukünftig seine Bediensteten noch mehr „auf Linie“ zu bringen als je zuvor.

 

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