Wie der Aufstand des Wagner-Gruppe-Führers Jewgeni Prigoschin bewertet werden muss, ist ein Kapitel für sich. Am Tag der mutmaßlichen Meuterei überschlugen sich die Ereignisse so schnell, dass man kaum mitbekam, wer sich nicht zu Wort meldete. Während Putin mit Kasachstan und der Türkei telefonierte, der weißrussische Sicherheitsrat wie auch der Iran schnell reagierte, fiel auf, dass ein Partner der Russen schwieg: nämlich die Volksrepublik China.
Erst 36 Stunden nach den sich überstürzenden Zwischenfällen im ehemaligen Sowjetreich meldete sich die Sprecherin des chinesischen Außenministeriums, Mao Ning, in ihrer täglichen Pressekonferenz zu Wort. Sie betonte, dass „der Vorfall mit der Wagner-Gruppe eine interne Angelegenheit“ Moskaus sei. Mao erinnerte auch daran, dass „China als freundlicher Nachbar und umfassender strategischer Koordinationspartner in der neuen Ära unterstützt und daran glaubt, dass Russland die nationale Stabilität wahren und Entwicklung und Wohlstand erreichen kann“. Dabei hatte am Samstag zuvor, als die 20.000 Söldner noch Richtung Moskau marschierten, ein Treffen zwischen der chinesischen Regierung und russischen Diplomaten stattgefunden, tags darauf die Emissäre Xi Jinpings ihr Vertrauen in Putin bekräftigt hatten.
Die italienische Tageszeitung „Libero“ vermutete als „geopolitischen Faktor“ die Abwärtskorrektur der chinesischen BIP-Wachstumsschätzungen für 2023. Laut Standard&Poor fiel diese von den zuvor geschätzten 5,5 Prozent auf 5,2 Prozent. „Das Hauptwachstumsrisiko für China“, heißt es in einer Mitteilung der Ratingagentur, „besteht darin, dass der Aufschwung aufgrund des schwachen Konsums und der Verbraucherausgaben sowie eines sich nicht erholenden Immobilienmarktes zunehmend an Schwung verlieren wird.“ Die Zeitung wies daraufhin, dass Xi am Tag des Prigoschin-Zuges in brieflichem Austausch mit einem belgischen Zoodirektor stand, in deren Mittelpunkt die Gesundheit der Pandas stand; so die Nachrichtenagentur Xinhua.
Offenbar soll die Funkstille des Drachen in der Situation im Nachhinein als völliges Vertrauen in die Putin-Regierung dargestellt werden. Dabei hätte eine öffentliche Loyalitätsbekundung auf dem Zenit der Krise viel deutlicher gewirkt. So erscheint Peking eher in der Rolle des abwartenden Beobachters, der auch in Russland nicht den engen Partner erkennt, wie es die Volksrepublik sonst behauptet. Der Fall wirft daher ein bezeichnendes Licht auf die Beziehung zwischen den beiden Mächten.
Denn schon zuvor hatte es immer wieder Zweifel daran gegeben, wie fest das Band zwischen Moskau und Peking ist. Keine Frage: die geopolitischen Umstände schweißen die Regime seit den 2000ern zusammen, und bereits seit der Krim-Krise 2014 und dem Boykott durch den wichtigen europäischen Markt sieht sich Russland zunehmend China ausgeliefert. Dabei hatte Wladimir Putin ursprünglich mit seiner Idee eines Marktes von Lissabon bis Wladiwostok durchaus pro-europäische Positionen eingenommen, wohlwissend darum, dass der Druck auf Sibirien sich in den folgenden Jahrzehnten eher erhöhen als abmindern würde.
Bezüglich der ostsibirischen Besitzungen ist zu sagen, dass der von den Russen befürchtete Druck in den letzten Jahren eher abgenommen hat. Die von der russischen Regierung ausgewiesenen Sonderzonen sind nur in bestimmten Fällen zu dem Erfolgsprojekt avanciert, das ursprünglich anberaumt war. Stand 2021 hatten nur 6 der 20 Zonen das Interesse chinesischer Investoren geweckt. Die Zahl der Chinesen auf der russischen Seite hatte ein Tief von nur 70.000 Personen erreicht.
Das sollte zugleich nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Volksrepublik ein gutes historisches Gedächtnis für Demütigungen hat. Neben der Zerstörung des Sommerpalastes durch Briten und Franzosen spielt die Annexion der Ostmandschurei immer noch als Ausdruck der „Ungleichen Verträge“ eine Rolle. Dass der chinesische Staatssender CGTN zum 160. Jubiläum der Gründung Wladiwostoks im Jahr 2020 daran erinnerte, dass die Stadt „Hǎishēnwǎi war, chinesisches Land – bevor Russland sie annektiert hat“, gilt einigen bisher nur als unbedeutende Fußnote, zeigt jedoch ein deutlich differenzierteres Verhältnis zum Nachbarn, als man allgemein denkt.
Auf russischer Seite existieren gleich mehrere Vorbehalte. Die Furcht, in die Abhängigkeit des wirtschaftlich, demographisch und militärisch weit überlegenen Nachbarn zu geraten, darf als nicht zu gering eingeschätzt werden. Der Abriss zu den europäischen Märkten ab 2014 machte aber eine Hinwendung nach Osten unausweichlich. Dabei sind auch russische Wünsche enttäuscht worden. Beim Gasdeal fühlten sich die Russen betrogen, da die Chinesen deutlich weniger in die Infrastruktur und Gasförderung in Sibirien investierten als erhofft. Die Vorwürfe von Industriespionage und -piraterie, die immer wieder von europäischer Seite gegenüber China erhoben werden, erheben auch die Russen. 2019 beschuldigte der russische Technologiekonzern Rostec die Volksrepublik des Diebstahls moderner Militärtechnologien.
Die Schwäche Russlands in der Ukraine und der Prigoschin-Vorfall stehen deswegen symptomatisch für die freundliche Kühle, die dem unerklärten Bündnis zugrunde liegt. Einerseits dürfte China kein Interesse an einer zu großen Schwäche der Russen haben, sollte sich daraus ein pro-westlicher Umsturz ergeben. Auch einen Zerfall des Riesenreiches mit Unruhen an der eigenen Grenzen dürfte Peking nicht wünschen. Vielmehr dürften die roten Mandarine an einer zunehmenden Schattenherrschaft interessiert sein, die in erster Linie über wirtschaftliche Maßnahmen erfolgt – Russland als Absatzmarkt für chinesische Produkte, indes Russland seine Ressourcen notgedrungen an das Reich der Mitte veräußert, möglicherweise sogar unter Wert, wenn es keinen Abnehmer findet.
David Boos hat im Magazin Tichys Einblick diese Situation folgendermaßen auf den Punkt gebracht: „China war nie sein Wunschpartner, aber der einzige Partner, der eine Zusammenarbeit mit Russland lange Zeit als opportun betrachtete. Denn wenn Russland sich in der Ukraine gemeinsam mit der Nato aufreibt, so spielt das China nur in die Karten. Ein geschwächter Westen ist ein einfacherer ‚Verhandlungspartner‘, wie es in China immer so schön heißt. Ähnliches gilt für ein geschwächtes Russland, zumal die Hierarchie zwischen Junior-/Seniorpartnern in der Zusammenarbeit mit China nur verfestigt würde.“
Die chinesisch-russische Frage ist deswegen keine bloße geopolitische Taktiererei für den abendlichen Kamin. Vielmehr hält die Achse Peking-Moskau inhärente Probleme für die Situation Europas bereit. Für Europa ist China bereits jetzt kein bloßer Handelspartner. Der Aufkauf kritischer Infrastruktur durch die Chinesen ist seit mehreren Jahren ein brisantes Thema. Die Hoffnung besteht wohl, dass sich Europa wie Russland so weit aufreiben, bis sie als faule Früchte in den chinesischen Einkaufskorb fallen.
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