Haben Nazis ein Lebensrecht? Im außerdeutschen Raum erscheint eine solche Debatte vielleicht verblüffend. Doch um nichts weniger kreiste die Diskussion Ende Mai, nachdem eine Linksextremistin zu milden Konzessionen freigelassen wurde. Sie hatte zusammen mit einer als „Hammerbande“ bekannten Gruppe Jagd auf angebliche „Neonazis“ gemacht. Sie zerschmetterte mit Hämmern die Gelenke der Betroffenen. Insgesamt 17 echte und vermeintliche „Nazis“ traf der Furor der Gruppe. Dabei genügte es, dass eines der Opfer eine Mütze aus einem rechten Modelabel trug. Dieses muss nach Schädel- und Jochbeinbruch bis heute eine Metallplatte im Gesicht tragen, damit es nicht erblindet. Andere Personen übergoss die Bande mit Säure.
Die Bundesanwaltschaft hatte 8 Jahre Haft gefordert. Der Richter gab der Extremistin 5 Jahre und 3 Monate. Die zweieinhalb Jahre Untersuchungshaft werden ihr angerecht, der Haftbefehl zurückgestellt – die Linksextremistin Lina E. darf am selben Tag nach Hause. Sie muss sich nur auf der Polizeistelle melden. Zur Begründung erklärt der Richter, der Kampf gegen Rechtsextremismus sei ein „achtenswertes Motiv“. Das ist nicht nur ein juristischer, sondern auch ein moralischer Sieg für das linke Milieu. Dennoch: Am selben Abend kommt es zu Ausschreitungen von Linksextremisten. „Antifaschisten“ greifen Polizisten an, begehen Sachbeschädigungen. In mehreren deutschen Städten kommt es zu Festnahmen.
Für Medien und Politik in Deutschland scheint das die Normalität zu sein. Der Skandal liegt ganz woanders. Grüne und linke Politiker wie Journalisten erkennen in dem Urteil einen Justizskandal. Ihnen erscheint der Richterspruch noch zu hart. Wie beim Urteil herrscht die Überzeugung, dass der Zweck die Mittel heilige; Antifaschismus sei kein Verbrechen. Der Autor eines öffentlich-rechtlichen Fernsehmagazins versteigt sich zu der Äußerung, dass man sich vor linksextremer Gewalt schützen könne, wenn man kein Nazi sei.
Der Fall wirft ein bezeichnendes Licht auf den moralischen Zustand im ersten Quartal des aktuellen Jahrhunderts. Freilich: rechtsextreme Gewalt ist ein reales Phänomen. Doch während es einen „Kampf gegen Rechts“ in Deutschland gibt, existiert ein „Kampf gegen Links“ bis heute nicht. Und würde ein konservativer Autor im selben Duktus schreiben oder reden, wie es manche Linke nonchalant tun, würde er unter dem Trommelfeuer von Medien und Politik untergehen. Die Linke bestätigt das, was bisher unausgesprochen blieb: Doch, für sie gibt es lebensunwertes Leben, nämlich dann, wenn man nicht ihrer Ideologie folgt. Denn „Nazi“, das ist mittlerweile nicht nur der echte Neonazi in Springerstiefeln, das ist für einen bedeutenden Teil des juste milieu ein Prädikat geworden, dass immer mehr Deutschen seit den späten 2000ern andauernden Krisen angeheftet wird.
Dass der totalitäre Kern bedauerlicherweise nie verschwunden ist, seitdem er in Form der sozialistischen bzw. nationalsozialistischen Regime sein hässliches Haupt erhoben hat, ist die banale wie unheimliche Lehre aus diesem Trauerspiel. Doch unter der Oberfläche lauert mehr. Mit dem Untergang der Sowjetunion glaubte man sich als Sieger der Geschichte sicher. Zurecht besteht die Klage, dass ein überstrapazierter Individualismus, Egozentrik und Selbstbestimmung wie Selbstentfaltung einen beträchtlichen Teil der Krise des Westens ausmacht. Paradoxerweise leidet der Westen aber nicht nur unter zu viel Individualismus; sondern auch unter zu wenig. Das Individuum ist heute bedrohter denn je – wie sonst käme man auf die Idee, dass ein Individuum sein Recht auf körperliche Unversehrtheit verliert, wenn ein Kollektiv darüber anders befindet?
Dieses Paradoxon ist historisch nicht zuletzt dadurch erklärbar, dass die Überbetonung des Individuums dem Liberalismus eigen ist, der heute in verschiedenen Schattierungen das gesellschaftliche wie politische Denken prägt. Der Sozialismus, der das Kollektiv und die Unterordnung des Individuums betont, ist jedoch keine vom Himmel gefallene Theorie, sondern geht aus dem Liberalismus hervor; er hat nur die Betonung der Freiheit zugunsten der Betonung der Gleichheit abgelegt. Und dass wir heute weder in einem reinen Liberalismus noch einem reinen Sozialismus leben, sondern in einer chimärenhaften Mischform, die allzu oft nur die negativsten Aspekte miteinander verbindet, fällt ins Auge.
In der Französischen Revolution sehen wir daher bereits alle politischen Programme, alle Ideologien und alle Fehler grundgelegt. Nur wenige Jahre nach der Verkündung der unveräußerlichen Menschenrechte kommen diese unter das Beil der Guillotine. Aus dem Individualismus resultiert notgedrungen der Kollektivismus, denn der Vereinzelte ist einer übergeordneten Kraft bedürftiger denn je. Die Mitte zwischen radikalem Individualismus und radikalem Kollektivismus, die christliche Familie, geht in diesem Kontext unter, nachdem sie über Jahrhunderte die bewahrende Kraft Alteuropas gewesen war. Konservative haben daher immer die Familie, nicht den Staat in den Mittelpunkt ihrer Politik gerückt.
Rechtsextremisten sind daher im vielfachen Sinne nicht die Erben der damaligen Royalisten; vielmehr sind sie wie Linksextreme weiterhin Träger des revolutionären Umsturzprogramms und damit auf Seiten der Jakobiner zu verorten. Ihnen ist jedes Mittel recht, ihre eigene Mission zu erfüllen; das höhere Ziel rechtfertigt Lüge und Gewalt. Der christliche Traditionalist wird wie Thomas von Aquin das Allgemeinwohl dem Eigennutz vorziehen; im Gegensatz zu den ideologisch Radikalisierten wird jedoch der Mensch als Ebenbild Gottes niemals den tradierten Wert verlieren, indes die vermeintlichen Menschenrechtler einen Menschenfeind schnell zum Vogelfreien erklären.
Was wir daher nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa beobachten, ist eine bemerkenswerte Rückabwicklung moralischer abendländischer Errungenschaften. Es war das Christentum, dass nicht nur Europa, sondern in der ganzen Welt das Fundament der Sklavenbefreiung war, weil ihm der Gedanke ungeheuerlich schien, dass Menschen bloßes Objekt sein könnten. Abolitionisten haben deshalb selbst in Afrika interveniert, um Sklavenhalterstaaten zu entmachten. Die Aufklärung hat diese Überzeugung lediglich übernommen und säkularisiert. Diese Errungenschaft wird häufig ausgeklammert zugunsten eines rein kolonialistischen Narrativs, das nur die Ausbeutung der Welt sieht, nicht aber, dass Teile dieser Welt häufig unter noch menschenfeindlicheren Staatsformen litten.
Die Philosophin Chantal Delsol hat im Zuge der Migrationskrise 2015 zurecht festgestellt, dass der Glaube Europas an das Individuum ein Dilemma auslöst. Eine ähnliche moralische Frage gab es im Kontext der hybriden Angriffe Russlands und Weißrusslands, die die polnische Grenze mit eingeflogenen Migranten bestürmen ließen. Und die aktuelle italienische Regierung muss sich die Frage gerade von rechter Seite gefallen lassen, wieso sie im Mittelmeer nicht rigider gegen illegale Anlandungen vorgeht.
Die Crux ist: in jedem dieser Fälle tun sich alle konservativen Regierungen schwer, weil sie die Rechte des Individuums gegen das Recht der Gemeinschaft abwägen müssen. Ein Teil jener deutschen Linken, die sonst die Rechte bei jedem Wort in die moralische Pflicht nimmt, hat dagegen gezeigt, dass sie es sich einfach macht. Das Individuum wird entmenschlicht, wenn es passt.
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