In Deutschland hat im März eine Revolution stattgefunden. Weder in Deutschland noch in Europa hat man sie wirklich realisiert. Denn in Deutschland werden Revolutionen nicht auf der Straße, sondern in preußischen Amtsstuben entscheiden. Das verhielt sich bereits bei der letzten, fehlgeschlagenen Revolution im März so. Revolutionen von oben, die dagegen im März geschahen, hatten weitaus mehr Erfolg. So auch bei dieser.
Am 17. März hat Deutschland die womöglich bedeutendste Wahlrechtsänderung der Nachkriegszeit vollzogen. Sie ist auch deswegen bemerkenswert, weil eine Regierung mit absoluter Mehrheit damit zumindest mittelfristig zwei Oppositionsparteien ausschalten könnte. Die linke Koalition aus Sozialdemokraten, Grünen und Liberalen setzt ein Gesetz durch, dass insbesondere einer Partei schadet: der christsozialen CSU aus Bayern.
Im Detail könnte der CSU vor allem die Streichung der sogenannten „Grundmandatsklausel“ zum Verhängnis werden. In Deutschland existieren derzeit zwei Modi, um in den Bundestag zu gelangen. Die erste Variante: eine Partei erhält 5 Prozent der Gesamtstimmen. Eine andere Variante – und hier kommt die Grundmandatsklausel ins Spiel – bedeutet, dass sie mindestens in drei Wahlkreise ein Direktmandat erringen muss. Sie erhält dann im Parlament die Zahl an Sitzen, die ihr nach der erreichten Prozentzahl der Gesamtstimmen zustünden – selbst wenn sie keine 5 Prozent erreicht hat.
Der Vorgang ist insbesondere deswegen bezeichnend, weil aktuell eine Partei von dieser Regelung profitiert. Es handelt sich um die postkommunistische Linkspartei. Sie war in der DDR die Einheitspartei des sozialistischen Staates und firmierte damals unter dem Namen SED. Sie hat bei der letzten Bundestagswahl im Herbst 2021 die 5-prozent-Hürde verfehlt, sitzt aber dennoch im Bundestag, weil sie drei Direktmandate errungen hat. Nach der neuen Regelung würde sie nicht mehr im Parlament sitzen.
Man mag nun zur Geschichte und Ideologie der Partei wie man stehen will. Dass aber eine amtierende Regierung ein Gesetz durchdrückt, dessen offene Absicht in der Eliminierung einer linken Konkurrenzpartei liegt, ist ein Vorgang, den man vielleicht in einer südamerikanischen Bananenrepublik oder einem autoritären Staat nach postsowjetischem Vorbild zutrauen würde, nicht jedoch einem mitteleuropäischen Land, das der Europäischen Union angehört. Hätten Rom, Warschau oder Budapest ein ähnliches Gesetz durchgewunken, Deutschland stünde schon in der nächsten Stunde auf der Brüsseler Schwelle, um eine Untersuchungskommission einzurichten und mit Sanktionen zu drohen.
Die eigentliche Perfidie des neuen Wahlgesetzes liegt aber in den Folgen für die angesprochene CSU und damit das gesamte politische System der Bundesrepublik. Denn anders als die Linkspartei erringt die CSU deutlich mehr als nur drei Direktmandate, da die regional verwurzelte Partei in Bayern besonders stark ist. Von den 46 bayerischen Direktmandaten errang die CSU 45. Während in einigen Großstädten Deutschlands selbst die Kandidaten mit den meisten Stimmen nur noch 20 bis 30 Prozent erreichen, kann das für die Christsozialen nicht gelten – insbesondere auf dem Land erreichen ihre Vertreter Achtungserfolge.
In jedem funktionierenden Wahlsystem sollte daher eigentlich klar sein, dass diese direkt gewählten bayerischen Vertreter in ein Nationalparlament einziehen sollten. Nicht aber so in Deutschland nach dem am 17. März beschlossenen Wahlgesetz. Wenn die CSU keine 5 Prozent auf Bundesebene erreicht, so hat sie keinen Anspruch auf eines der Mandate. Selbst wenn ihr Direktkandidat in jedem bayerischen Wahlkreis mit absoluter Mehrheit gewinnen würde.
Das neue Wahlgesetz schadet damit den Parteien rechts der Mitte deutlich mehr als den Parteien links der Mitte. Denn die CSU tritt nur in Bayern an und muss in Bayern so stark werden, dass sie 5 Prozent der Gesamtstimmen in der ganzen Bundesrepublik gewinnt. Nun ist Bayern ein vergleichsweise großes Bundesland und derlei tatsächlich möglich. So hat die CSU in der Vergangenheit stets über der 5-Prozent-Hürde gelegen. Doch mit der Veränderung des Parteiensystems und des Wahlverhaltens der Bevölkerung ist das nicht mehr so sicher. Bei der Bundestagswahl 2021 bekam die CSU insgesamt 5,2 Prozent. Die nächste Wahl ist demnach eine Zitterpartie.
Würde die CSU aus dem nächsten Bundestag fliegen, wäre das eine seismische Verschiebung im deutschen Parteiensystem. Nicht nur würden Millionen Wähler plötzlich nicht mehr repräsentiert. Es wäre auch eine strategische Verschiebung Richtung links. Denn die CSU befindet sich im Bundestag in einer Fraktionsgemeinschaft mit der CDU. Seit der Gründung der Bundesrepublik besteht die Übereinkunft, dass die CSU nicht außerhalb Bayerns antritt und die CDU niemals innerhalb Bayerns.
Die Stärke der CSU hat häufig der Unionsfraktion ihre strategische Überlegenheit gegenüber der Sozialdemokratie im Parlament gesichert. Dadurch, dass die Fraktion aus CDU/CSU stärker war, konnte sie auch in einer Großen Koalition aus CDU/CSU und SPD eine Mehrheit gewinnen, damit der Kanzler aus ihren Reihen gewählt wurde. Sollte die CSU in Zukunft wegfallen, ergibt sich die langfristige Perspektive, dass die SPD die Union an die leine nehmen kann und den Kanzler stellt. Aufgrund mangelnder eigener Stärke wäre die CDU, wollte sie regieren, dazu gedemütigt, sich stets mit linken Parteien einzulassen. Das Wegfallen der CSU ist eine Amputation der CDU.
Die Bundesregierung hat ihre eigene Reform in höchsten Tönen gelobt. Sie würde schließlich das Parlament verkleinern. Da leider Linke nur in den seltensten Fällen ein Gespür für Ironie haben, ist ihr womöglich nicht aufgefallen, wie Recht sie hat. Sie hätte auch sofort zwei Oppositionsparteien verbieten lassen können, um besagtes Ergebnis zu erreichen. In der parlamentarischen Debatte überwog der Aufruf an die CSU, ihren Egoismus abzulegen und sich den Bedürfnissen Deutschlands zu beugen. Die Aufgabe der eigenen Existenz als Dienst an das neue Deutschland.
Die AfD, die für sich beansprucht, die einzige rechte bzw. konservative Partei im Parlament zu sein, enthielt sich indes der Abstimmung. Sie meldete sich auch nicht mit Reden, sondern nur zwei Nachfragen zu Wort. Das hatte einerseits damit zu tun, dass die neue Wahlrechtsreform ursprünglich ihren Ideen entstammte, wenn auch die Streichung der Grundmandatsklausel eine Erfindung der regierenden Koalition war. Andererseits hofft sie davon zu profitieren, sollten zwei Konkurrenzparteien aus dem Parlament scheiden. In dieser Hinsicht hat die „Alternative“ ganz den Parteiengeist der von ihr so benannten „Altparteien“ angenommen.
Allerdings kann die AfD nicht darauf hoffen, die konservativen Stimmen der Bayern zu gewinnen. Dafür ist sie zu deutschnational, was dem bayrisch-regionalen Selbstbewusstsein zutiefst widerspricht. Die AfD dürfte demnach auch weniger vom Wegfall der CSU profitieren, denn vielmehr vom Wegfall der Linkspartei, um die ostdeutschen Gebiete langfristig an sich zu binden. In den Gebieten der ehemaligen DDR steht sie als „Totalopposition“ und als Anwalt des Ostens in direkter Konkurrenz zu den Postkommunisten.
Bezeichnend für diesen einmaligen Vorgang in der bundesdeutschen Geschichte ist wieder einmal der Umgang mit der Causa. Die Bundesregierung hatte die Grundmandatsklausel nur vier Tage vor der Abstimmung aus dem Wahlrechtsgesetz gestrichen. Der Unmut ging einzig von den betroffenen Parteien aus, CSU und Linkspartei wollen nun zum Verfassungsgericht ziehen. Die Medien bemerkten zwar das historische Ausmaß, störten sich aber offenbar nicht daran. Öffentliche Unruhen oder Proteste, wenigstens Demonstrationen – gab es keine. Von einem Aufschrei kann also nicht die Rede sein. Bereits eine Woche nach der Verabschiedung war neuerlich Friedhofsrufe eingekehrt. So sind die Verhältnisse in einer Republik, wo Revolutionen traditionsgemäß von oben verordnet werden.
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