Nicht nur in der Energiepolitik bleibt Deutschland vorerst im Peter-Pan-Modus: gleich mehrere Ereignisse haben diesen Monat offengelegt, dass sich Berlin trotz immenser Belastungen sträubt, eine pragmatischere und weitsichtigere Zuwanderungspolitik durchzusetzen. Bereits in ihrem Koalitionsvertrag hat die amtierende Bundesregierung aus Sozialdemokraten, Grünen und Liberalen angekündigt, die Erlangung der Staatsbürgerschaft zu erleichtern und den Zuzug zu legalisieren statt zu kriminalisieren.
Deutschland kann sich diese Politik auch deswegen leisten, weil sie die „hässlichen Bilder“ an der Grenze den anderen EU-Mitgliedsstaaten überlässt. Die Vermeidung „hässlicher Bilder“ war auch einer der Hauptgründe, warum Angela Merkel im Sommer 2015 die Grenzen für Millionen Zuwanderer öffnete. Der deutschen Politik ist kurzfristige PR wichtiger als langfristige Strategien: es herrscht der Gedanke vor, dass Deutschland als reiches Land zuletzt jedes Problem mit Geld ersticken kann. Der Gedanke, dass es immaterielle Güter gibt, die man nicht mit Geld kaufen kann, oder dass dieses Geld irgendwann ausgehen könnte, existiert in Berlin offenbar nicht.
Einen heftigen Schlag erlitt diese Politik auf dem europäischen Migrationsgipfel Mitte Februar. Bundeskanzler Olaf Scholz wollte zusammen mit seinem spanischen Amtskollegen Pedro Sanchez harte Formulierungen aus der Abschlusserklärung heraushalten. Stattdessen warb der Kanzler für das eigene Programm der Bundesregierung: er wollte mehr legale Wege für „Erwerbsmigration“. Europa müsse sich dafür einsetzen, dass diejenigen, die „wir für unsere Arbeitsmärkte brauchen, auch herkommen“.
Das musste sich für die EU-Partner wie eine Rede aus einem Paralleluniversum anhören. Vermutlich tat sie das auch. Denn die anderen Mitgliedsländer setzten sich mit ihrer Forderung nach mehr Grenzzäunen durch, während der deutsche Elefant im Porzellanladen im Grunde davon sprach, dass es noch mehr Migration geben müsse. Wie 2015 wird Deutschland seine Migrationspolitik nicht ändern, um mit weißer Weste dazustehen. Bekanntlich brauchte es eine Milliardenabkommen mit Erdogans Türkei, um den Migrationsstrom etwas zu bändigen. Hier besteht eine neuerliche Parallele zur deutschen Energiepolitik: lieber macht sich die größte Volkswirtschaft Europas von außereuropäischen Mächten abhängig, bevor sie die eigene Ideologie verrät.
Das Paradoxon besteht: obwohl die deutsche Politik auf dem europäischen Migrationsgipfel seine Forderungen nicht durchsetzen konnte, kommt ihr die realpolitische Kandare der Partnerstaaten zu Pass. Denn innenpolitisch zeigt sich immer mehr, dass jene „hässlichen Bilder“; die man an der Grenze vermeiden wollte, nunmehr mitten in Land selbst geschehen. Das betrifft nicht nur steigende Zahlen von Überfällen oder Sexualdelikten. Erst am 5. Dezember 2022 hatte der Angriff eines eritreischen Flüchtlings auf zwei Mädchen das Land erschüttert: ein Mädchen wurde getötet, ein zweites schwer verletzt. Doch nun droht der soziale Frieden als Ganzes zu kippen.
So starteten die Kommunen einen Hilferuf in Richtung Bundesregierung. „Soziale Spannungen wachsen zum Teil in der Nähe von Einrichtungen für Geflüchtete. Das macht uns in den Städten große Sorgen“, erklärte Helmut Dedy vom Städtetag. Es fehle Geld an allen Ecken und Enden, so etwa für mehr Personal in Kindertagesstätten und Schulen. Die Integration könne sonst nicht gelingen. „Die finanziellen Mittel für die Aufnahme der Geflüchteten müssen dynamisch an die tatsächliche Zahl der Geflüchteten angepasst werden“, forderte Dedy.
Solche Forderungen stoßen in der Migrationspolitik auf offene Ohren. Denn wie erwähnt: die deutsche Politik ist sicher, jedes Problem mit Geld beheben zu können. Dass eine millionenfache Zuwanderung nicht mit bloßen Geldmitteln gelöst und Integration nicht mit Kreditüberweisungen funktioniert, ist dem materialistischen Geist komplett fremd geworden. Dass die Einwanderung aus fremden Kulturkreisen komplexe Auswirkungen hat, die fundamental mit Mentalität, Religion und Kultur zusammenhängen, und sich gewisse Migranten gar nicht integrieren wollen, sondern auf ihr Recht pochen, ungestört ihre Identität weiterzuleben, bleibt unausgesprochen. „Niemanden wird etwas weggenommen“ war einer er Slogans der Migrationskrise 2015 – so, als sei das Geld, dass der Staat großzügig verteilt, von diesem „erwirtschaftet“, und nicht vorher dem deutschen Steuerzahler abgerungen worden.
Trotz der deutschen Scheuklappen in der Migrationspolitik kündigen sich Veränderungen an. Während die UNESCO die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel für ihre „mutige“ Politik im Jahr 2015 auszeichnet - und damit die Hauptverantwortliche für die aktuelle Linie in der Flüchtlingsfrage – gibt es in ihrer Partei, der CDU, Abnabelungsprozesse. Das ist einerseits überraschend, andererseits notwendig.
Denn die großzügige deutsche Einwanderungspolitik lebt von einem Konsens über alle Parteien hinweg – von der linksradikalen Linkspartei über Grüne, Sozialdemokraten, Liberale bis hin zu den zentristischen Christdemokraten. Wer diesen Konsens nicht teilte, konnte als „rechts“, gar als Rassist, „Dunkeldeutscher“, Menschenfeind, kurz: als persona non grata nicht nur aus dem politischen, sondern sogar aus dem gesellschaftlichen Diskurs ausgeschlossen werden. Der Erfolg der rechtsnationalen AfD ist auf ihre Rolle als Gegenpol zu diesem Konsens zurückzuführen. In Deutschland konnte man über Jahre die von Alexis de Tocqueville diagnostizierte Tyrannei der Mehrheit hautnah miterleben.
Doch dieser Aufstieg der AfD hat der Christdemokratie als einst größte und wichtigste Partei des Landes maßgeblich geschadet. Sie hat unter Merkel ihren Markenkern verraten und den wirtschaftsliberalen wie auch wertkonservativen Flügel abgeworfen. Die Migrationsfrage ist ein Thema, das für die CDU in ihrer Ära nach Merkel entscheidend ist. Sie kann sich jedoch (noch) nicht wie die AfD exponieren, da die kulturelle Hegemonie der Linken zu sehr dominiert. Wer sich kritisch gegenüber der aktuellen Migrationspolitik zeigt, steht im Verdacht, mindestens ein Rassist, wenn nicht gar ein AfD-Anhänger zu sein. Die Sozialdemokratie hat es sogar zu einer ihrer Losungen erhoben, dass eine Änderung der Migrationspolitik „den Rechten in die Hände spielen“ würde.
Doch die Christdemokraten haben in diesem Monat an gleich mehreren Stellen gezeigt, dass sie bereit sind, aus ihren Fehlern zu lernen – und wenn es nur um den pragmatischen Kampf für Wahlstimmen geht. In Berlin etwa, wo am 12. Februar gewählt wurde, machte die CDU einen Wahlkampf wie seit Jahren nicht mehr. Sie thematisierte Ausländerkriminalität, setzte sich für mehr Polizei ein und kritisierte die Clan-Strukturen in Migrantenvierteln. Auf europäischer Ebene näherte sich Manfred Weber von der CSU in seinen Positionen so nah an die Inhalte der „Rechten“ an, dass ihm die ID-Fraktion, der auch die AfD angehört, vorwarf, er wolle ihnen das Programm stehlen.
Zu einem bemerkenswerten Zusammenprall kam es beim nationalen Migrationsgipfel, der sich dem europäischen Migrationsgipfel anschloss. Die sozialdemokratische Bundesinnenministerin Nancy Faeser, die dem Gipfel vorstand, übertraf sich in eigenem Selbstlob, konnte sonst aber nur vage Absichtserklärungen von sich geben. Das war den christdemokratischen Vertretern deutlich zu wenig. Der Präsident des Deutschen Landkreistages machte deutlich, dass sich die Kommunen in einer schlimmeren Situation als 2015/2016 befänden und machte sich für einen Ausbau der EU-Außengrenzen stark. Der hessische Innenminister warnte davor, dass die Stimmung im Land zu kippen drohe. Als ein SPD-Vertreter die gegenwärtige Migrationspolitik lobte, kam es zum Eklat: ein Vertreter des CDU-geführten Landkreistages verließ unter Protest den Saal.
Während das Dogma der offenen Grenzen und der unbegrenzten Aufnahme immer noch steht, führt die Belastung der Kommunen mittlerweile sogar dazu, dass die Speerspitze der „Refugees welcome“-Bewegung, nämlich die Grünen, unter Druck geraten – und zwar vonseiten der eigenen Parteikollegen. Mehrere Vertreter der Partei, vornehmlich Kommunalpolitiker, lancierten ein Memorandum für eine pragmatischere Zuwanderungspolitik. Die Parteispitze unterdrückte und diskreditierte das Papier mit allen Mitteln. Doch die bloße Existenz eines solchen Alarmrufes zeigt, dass selbst die ideologischste Partei in Migrationsfragen nicht mehr der Realität ausweichen kann, wenn die eigenen grünen Bürgermeister unter den Lasten der bundesdeutschen „Willkommenskultur“ stöhnen.
Denn die so oft vermiedenen „hässlichen Bilder“ haben in der letzten Woche einen neuen Höhepunkt erreicht. Es handelt sich um einen Fall im südwestdeutschen Lörrach, das in einem Kerngebiet der deutschen Grünen liegt. Dort bekamen die Mieter einer städtischen Wohnungsgesellschaft Post: in einem Brief wurde den Bewohnern angekündigt, sie müssten ihre Wohnungen bis Ende des Jahres räumen. Ihnen würde gekündigt. Grund: Flüchtlinge müssten in ihre Wohnungen einquartiert werden.
Mieter raus, Flüchtlinge rein? Die Medien versuchten, den Fall herunterzuspielen. Aber das vor allem sozial schwache Bewohner eines Mietblocks für die verfehlte Migrationspolitik Platz machen mussten, sorgte für einen Aufschrei im ganzen Land, dem man nicht mehr beikommen konnte, indem man diese als rassistische Hasskommentare abqualifizierte. Die „hässlichen Bilder“, waren nun da: in Form eines Verteilungskampfes zwischen den schwächeren Gesellschaftsschichten.
Das Versprechen, dass sich mit der Migrationspolitik „niemanden etwas genommen“ werde, entpuppte sich als Lüge. Nicht nur der soziale Frieden droht in Deutschland zu kippen. Woanders ist die Stimmung längst gekippt. Nur noch 16,7 Prozent der Deutschen bewerten die Migrationspolitik der Bundesregierung als positiv. Es bleibt einzig die Frage, ob die Deutschen auch so erwachsen werden, diese Einsicht bei der nächsten Wahl auch gebührend abzubilden.
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