Unterstützen Sie uns

Werden Sie unser Abonnent und lesen Sie alle Artikel, wie Sie wollen

Unterstützen Sie uns
Die Unterstützung

Von Warschau aus gesehen, von Brüssel aus gesehen: Echo der Heidelberger Rede

2023-05-27
Zeit zum Lesen 10 min
Am 20. März hat Premierminister Mateusz Morawiecki an der Universität Heidelberg eine sehr wichtige Rede gehalten.[1] Es lohnt sich, sie mit der Rede von Präsident Emmanuel Macron an der Sorbonne im Jahr 2017 und mit der Rede von Bundeskanzler Olaf Scholz an der Karls-Universität in Prag Ende August 2022 zu vergleichen.  Es lohnt sich, die Argumente und Vorschläge in diesen Reden zu vergleichen. Ich glaube, dass die Rede des polnischen Ministerpräsidenten von denjenigen, die über die europäische Politik entscheiden - oder entscheiden wollen - sehr aufmerksam gehört wurde. Aber sie wurde nicht nur von ihnen, sondern auch von den sog. westlichen Medien stillschweigend übergangen.

Eine Ausnahme bildete die Stimme von Bernard Guetta.[2] Dieses Mitglied der Fraktion "Renew", französischer Abgeordneter des Europäischen Parlaments, ehemaliger Journalist und Korrespondent von Le Monde in Polen in den 1980er Jahren, hebt sich von den anderen Abgeordneten des Europäischen Parlaments und den Beamten der Europäischen Kommission nicht nur durch seine Kenntnis Polens und ganz Mittel- und Osteuropas (was nicht schwer fällt), sondern auch durch seinen weiteren Horizont im Allgemeinen ab. Heutzutage beschränken sich seine Überlegungen zur EU und zu Europa nicht nur darauf gängige Meinungen zu wiederholen.  Er schreibt jetzt für Polityka, einst eine Wochenzeitung aufgeklärter Kommunisten, die General Jaruzelskis Kriegsrecht unterstützten, heute der nicht mehr richtig aufgeklärten Post-Kommunisten, die zu Liberalen geworden sind.

Guetta hielt die Rede des Premierministers Morawiecki  für bahnbrechend, sie erfordere einen ernsthaften Dialog:  "Die Rede in Heidelberg ist ein Wendepunkt. Deutschland und Spanien, Frankreich und Italien, die Benelux-Staaten und die skandinavischen Länder, Griechenland und Portugal, Rumänien, die Tschechische Republik und ganz Mitteleuropa müssen so schnell wie möglich darauf reagieren, und zwar herzlich und positiv, indem sie der Sache auf den Grund kommen und Polen beim Wort nehmen.“

In der Tat würde eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den Thesen der Rede von Mateusz Morawiecki nicht nur den französisch-polnischen Beziehungen, sondern auch Europa insgesamt gut tun. Es braucht eine französisch-polnische Lokomotive.

Leider gab es darauf keine Antwort.  Generell hat es seit 2015 keinen sinnvollen Versuch eines ernsthaften Gesprächs mit Polen gegeben. Und ein ernsthaftes Gespräch ist keine Belehrung und keine leere Witzelei über Mittel- und Osteuropa, ohne mehr darüber zu wissen.

Leider haben viele Politiker in den europäischen Ländern nicht erkannt, dass die Zeiten der klientelistischen Politik Polens vorbei sind. Tusks Polen kommt nicht mehr zurück. Heute wissen wir auch, wie falsch unsere selbst ernannten Erzieher - einschließlich Europas oberste Lehrmeisterin, Angela Merkel - lagen. Wir wissen, wie schlecht ihre Entscheidungen waren. Wir alle zahlen für ihre Kosten. Und die Ukraine zahlt mit ihrem Blut. Anstatt also zu erwarten, dass ein eifriger Nicker wieder die Regierung an der Weichsel übernimmt, anstatt rituell zu erklären, dass die Polen - lies Lech Kaczyński und die PiS-Partei - mit der geopolitischen Situation Europas und ihrer Einschätzung Russlands richtig lagen, sollte man endlich anfangen, unseren Argumenten zuzuhören und ein ernsthaftes Gespräch zu führen.

Ein ernsthaftes Gespräch bedeutet nicht, die Lügen und Verleumdungen der "Verteidiger der Demokratie" in Polen zu wiederholen. Tatsächlich haben sich so viele dieser so genannten "Verteidiger" bereits bis zur völligen Diskreditierung so blamiert, dass es sinnvoll ist, endlich zu begreifen, dass sie zumindest mit Vorsicht behandelt werden müssen. Leider haben die Menschen erst durch den Krieg aufgehört, an diese bis zur Absurdität übertriebenen Geschichten über das "autoritäre" Polen zu glauben.

Bernard Guetta zufolge ist dieser "Wendepunkt" in der polnischen Politik gegenüber der EU die Aussage von Mateusz Morawiecki, dass Europa in der Lage sein sollte, sich selbst zu verteidigen.   Der Ministerpräsident postuliert, dass die europäischen Staaten "militärisch so stark sein sollten, dass sie im Falle eines Angriffs keine Hilfe von außen benötigen, sondern andere militärisch unterstützen können" und er fügt hinzu: "Das ist heute nicht der Fall. Ohne amerikanisches Engagement würde die Ukraine nicht mehr existieren. Und der Kreml würde sich sein nächstes Opfer suchen."

Guetta war der Meinung, dass die Worte des Premierministers nur eine andere Art sind, die französische Idee der "strategischen Autonomie" auszudrücken. Wenn sie  wirklich das  bedeutet?, dann können die Polen sagen: d'accord.

Die PiS-Partei hat war immer dieser Meinung. Ich möchte Sie daran erinnern, dass Premierminister Jarosław Kaczyński vor vielen Jahren in einer Rede für „Heritage Foundation“ die Vision einer gemeinsamen Verteidigungspolitik und sogar einer europäischen Armee zeichnete. Heutzutage haben polnische Politiker wiederholt betont, dass die Länder der Europäischen Union ihr Verteidigungspotenzial deutlich erhöhen sollten. Wir unterstützen die Bemühungen von Kommissar Tierry Breton zur Stärkung der Verteidigungsindustrie. Polen ist in der Lage, die Produktion von Ausrüstungsgütern, die die Ukraine braucht und die Europa braucht, erheblich zu steigern. Diese Regierung ist für die so verstandene "autonome Strategie" der Union. Es ist kein Zufall, dass ein polnischer PiS-Abgeordneter der Hauptberichterstatter bei der Arbeit an der Verordnung zur Einrichtung des Europäischen Verteidigungsfonds und einer der beiden Hauptberichterstatter für EDIRPA (European defence industry reinforcement through common procurement act), war. Auch in anderen Bereichen –  Energiepolitik, Industriepolitik, Rohstoffpolitik, Digitalpolitik – sind wir für eine engere europäische Zusammenarbeit und die Verringerung der Abhängigkeit Europas von externen Lieferungen.

Bernard Guetta behauptet: "Polen und Frankreich sind sich jetzt in den wesentlichen Punkten einig, die die Union zu einer politischen Union machen werden. Das ist nicht oft genug gesagt und gehört worden: Polen hat die Notwendigkeit einer europäischen Verteidigung voll akzeptiert, die nun auf dem Weg zur Einstimmigkeit in der Union ist." Und er erklärt: "Wir bewegen uns tatsächlich auf eine politische Union zu."

Polen ist jedoch der Ansicht, dass die bisherige Politik der Union nicht fortgesetzt, sondern grundlegend geändert werden muss. Wie Premierminister Morawiecki betont hat: "In erster Linie muss sich die Politik der Union ändern. Nicht in Richtung einer weiteren Zentralisierung, die die Macht in die Hände einiger weniger Schlüsselinstitutionen und der stärksten Staaten legt, sondern in Richtung einer Stärkung des Gleichgewichts zwischen den Völkern in Nord-, West-, Mittel-, Ost- und Südeuropa. Und zur Vollendung der EU-Integration mit dem westlichen Balkan, der Ukraine und der Republik Moldau, im Einklang mit den geografischen Grenzen Europas. Es ist daher unmöglich, der Aussage vom Abgeordneten Guetta zuzustimmen, dass "die Unterschiede zwischen uns hinsichtlich des Grades des Föderalismus, den wir erreichen sollten, in welchem Tempo und wann und in welchen Bereichen wir ihn erreichen sollten" -"in Wirklichkeit völlig zweitrangig" wären.

Polen ist auch der Ansicht, dass die Union mit den Vereinigten Staaten als ihrem engsten und unverzichtbaren Verbündeten verbunden bleiben sollte. Die russische Aggression hat gezeigt, wie notwendig dies ist. Deshalb will die polnische Ratspräsidentschaft 2025 der Wiederherstellung der transatlantischen Beziehungen große Aufmerksamkeit widmen.

Polen möchte, dass die Union die Interessen Polens besser als bisher berücksichtigt. Sie muss eine Union sein, die den Grundsatz der Gleichheit ihrer Mitgliedsstaaten respektiert, eine Union, die ihre Kompetenzen nicht überschreitet sich nicht in die Innenpolitik, Kultur und Identität der Mitgliedsstaaten, einschließlich ihrer Verfassungsidentität, einmischt.  Als im März dieses Jahres auf einer Mini-Tagung des Europäischen Parlaments ein Vorschlag für eine Debatte über die unverhältnismäßige Anwendung von Gewalt durch die Polizei während der Proteste in Frankreich gemacht wurde, wurde er unter anderem mit den Stimmen der EKR-Fraktion abgelehnt. Auch die polnische Delegation unterstützte den Vorschlag für diese Debatte unter Hinweis auf die französische Souveränität weitgehend nicht. Haben aber die französischen Abgeordneten der "Renew"-Fraktion den gleichen Respekt gegenüber Polen gezeigt, als weitere absurde Debatten darüber organisiert wurden?

Bernard Guetta, der wissen sollte, wie viel Unsinn im Europäischen Parlament über Polen gesagt wurde, schreibt, die derzeitige Regierung der Republik Polen sei "reaktionär". Doch er kennt Polen zu gut, um nicht zu wissen, welche Assoziationen  eine solche Sprache auslöst. In der Vergangenheit waren in Polen die Sanation [poln. Sanacja], die Heimatarmee (AK), und die Katholische Kirche und Solidarność allesamt "reaktionär". Kardinal Sapieha war reaktionär, ebenso wie Rottmeister Pilecki, sogar Adam Michnik war einmal ein Reaktionär, in den Zeiten, als Mieczysław Rakowskis "Polityka" die Kriterien für den Fortschritt festlegte. "Reaktionär" war der gesamte "Westen". Uns Polen ist es noch nicht gelungen, all jene zu exhumieren, die im zwanzigsten Jahrhundert im Namen des Kampfes gegen die "Reaktion" ermordet wurden, und wir möchten nicht, dass sich der Kreis der Geschichte schließt. Ich schlage daher vor, diese Sprache fallen zu lassen.

Wir sind davon überzeugt, dass ein Europa der starken Staaten, die eng zusammenarbeiten, auch auf politischem Gebiet und auch und vielleicht besonders im Bereich der Verteidigung, eine viel realistischere Option ist als ein Superstaat Europa. Premierminister Morawiecki wies darauf hin, dass die Errichtung eines solchen Superstaates zu einer Krise führen würde: "Ich warne alle, die davon träumen, einen Superstaat zu schaffen, der von einer kleinen Elite regiert wird. Wenn wir die kulturellen Unterschiede ignorieren, wird das Ergebnis die Schwächung Europas und eine Reihe von Rebellionen sein, vielleicht sogar ein neuer Völkerfrühling wie der von 1848." Solche Revolten sind bereits im Gange, vor allem in Frankreich.

Wir finden es bemerkenswert, dass Präsident Macron am 1. September letzten Jahres vor den französischen Botschaftern zwar von einem souveränen Europa sprach, aber gleichzeitig, fast in einem Atemzug, von einem souveränen Frankreich, von seiner Macht und seinem Einfluss in der Welt sprach und darin keinen Widerspruch sah.[3] Auch unsere deutschen Nachbarn sehen keinen Widerspruch zwischen dem Ausbau der Macht und Souveränität Deutschlands und der zunehmenden Zentralisierung und Föderalisierung der Union. Sie glauben wahrscheinlich sogar, dass es eine Rückkopplung zwischen diesen beiden Zielen gibt. Und sie haben dafür starke empirische Belege aus der jüngsten Geschichte.  Nun,  wir Polen sind auch nur an einem souveränen Europa interessiert, das in der Lage ist, sich selbst zu verteidigen und das die Freiheit, Stärke und Souveränität Polens nicht ausschließt.

 


[1] https://www.gov.pl/web/premier/wystapienie-premiera-mateusza-morawieckiego-na-uniwersytecie-w-heidelbergu)

[2] https://guetta.blog.polityka.pl/2023/03/28/lokomotywa-francusko-polska/

[3]  https://www.elysee.fr/emmanuel-macron/2022/09/01/discours-du-president-emmanuel-macron-a-loccasion-de-la-conference-des-ambassadrices-et-des-ambassadeurs).

Kommentare (0})