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Von Warschau aus gesehen, von Brüssel aus gesehen: Ein Staat "Europa" im Aufbau?

2023-04-03
Zeit zum Lesen 6 min
Es ist sehr wahrscheinlich, dass wir von unseren europäischen Partnern bald vor die Wahl gestellt werden: Wenn Polen die Aufnahme der Ukraine (und anderer Beitrittskandidaten, die die Grundvoraussetzungen erfüllen) in die Union befürwortet, muss es einer Reform der Union zustimmen, die diese weiter zentralisiert und das Einstimmigkeitsprinzip in der Außenpolitik der Union abschafft – und wahrscheinlich auch in den weiteren wenigen Bereichen, in denen es noch gilt. Dies hat Bundeskanzler Olaf Scholz in seiner Rede in Prag bereits angekündigt.

 

Das Bestreben, die permanente Ausweitung der EU-Kompetenzen auf Kosten der Mitgliedstaaten durch Vertragsänderungen zu legitimieren und ihnen wichtige neue Befugnisse zu übertragen, wird immer deutlicher.  Bereits während der "Konferenz zur Zukunft Europas" forderten das Europäische Parlament und "Bürgervertreter", de facto  Aktivisten föderalistischer Organisationen, die Einberufung eines Konvents, um formell Änderungen der Verträge vorzuschlagen. Bislang ist dies noch nicht geschehen. Die europäischen Staaten sind in dieser Frage immer noch uneinig. Kurz nach der Konferenz wurden zwei Briefe veröffentlicht – einer, der von Ländern unterzeichnet wurde, die bereit sind, die Forderungen umzusetzen (Deutschland, Italien, Spanien, Belgien, die Niederlande und Luxemburg), und der andere, dessen Unterzeichner sich gegen eine rasche Reform der Verträge aussprechen (Bulgarien, Dänemark, Finnland, Estland, Kroatien, Lettland, Litauen, Malta, Polen, Rumänien, Slowenien, Schweden, Tschechische Republik). Seitdem befindet sich der Rat in einer Sackgasse. Der Rat und die Kommission haben die Vorschläge der Konferenz in Arbeitsdokumenten bewertet und darauf hingewiesen, dass es auch die Möglichkeit gibt, sie ohne Änderung der Verträge umzusetzen. Allerdings haben weder die vorangegangene tschechische noch die derzeitige schwedische Ratspräsidentschaft konkrete Maßnahmen in dieser Frage ergriffen.

Die Befürworter einer Zentralisierung der Union durch Vertragsänderungen legen die Waffen nicht nieder. Das Europäische Parlament arbeitet hart an diesem Thema. Es wird Druck auf den Rat ausüben, einen Konvent einzuberufen. Eine im Juni vergangenen Jahres angenommene Entschließung, in der das Parlament unter Berufung auf Artikel 48 des Vertrags über die Europäische Union mehrere Vorschläge für Vertragsänderungen unterbreitet hat, sollte genau dies bewirken. Der Rat reagierte nicht förmlich auf diese Vorschläge, da er der Ansicht war, dass das Parlament seinen Vorschlag in Form eines vom Ausschuss für konstitutionelle Fragen (AFCO) ausgearbeiteten und vom Plenum angenommenen Berichts und nicht in Form einer nicht bindenden Entschließung vorlegen sollte. Daraufhin nahm das Parlament die Arbeit im AFCO-Ausschuss auf.

Und der AFCO-Ausschuss hat bereits seit letztem Herbst detaillierte Vorschläge für Vertragsänderungen ausgearbeitet. Es ist zu erwarten, dass das Parlament diese Vorschläge vorlegen wird, sobald die Umstände günstig sind. Der Initiator der Arbeiten (der frühere belgische Premierminister Guy Verhofstadt von der Fraktion Renew) wollte, dass der Bericht ein Dokument sein sollte, das von allen im Parlament vertretenen Fraktionen gemeinsam verfasst und unterzeichnet wird. Die rechtsgerichtete ID-Fraktion entschied sich jedoch gegen eine Beteiligung an der Arbeit des Teams. Im Gegensatz dazu ist die EKR weiterhin beteiligt. Ihr Berichterstatter ist Jacek Saryusz-Wolski, der jedoch hauptsächlich als einziger gegen die vorgelegten Vorschläge vorgeht. Die Arbeiten an den Vorschlägen zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union sind bereits sehr weit fortgeschritten, und parallel dazu läuft auch eine Überarbeitung des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union.

Viele der vom AFCO-Ausschuss vorgeschlagenen Änderungen sind grundlegend. Sie betreffen unter anderem Artikel 7, der für Polen von großem Interesse ist, und das Verfahren bei Verletzung der in Artikel 2 verankerten EU-Werte. Nach der vorgeschlagenen Änderung könnte nicht nur der Rat mit qualifizierter Mehrheit (statt wie bisher einstimmig), sondern auch das Parlament mit der Mehrheit seiner Mitglieder einen Fall gegen einen Mitgliedstaat an den EuGH verweisen. In Artikel 2 schlägt der AFCO-Ausschuss vor, allgemein von der Gleichstellung der Geschlechter statt von der Gleichstellung von Männern und Frauen zu sprechen - denn wie denn laut "progressiven" Kreisen gibt es schließlich viele Geschlechter. In Artikel 4.1, der besagt, dass "alle der Union nicht in den Verträgen übertragenen Zuständigkeiten gemäß Artikel 5 bei den Mitgliedstaaten verbleiben", wird folgender Zusatz vorgeschlagen: "im Einklang mit ihrer inneren verfassungsmäßigen Ordnung". Dies würde den Organen der Union die Möglichkeit geben,, diese Kompetenzen in Frage zu stellen, indem sie das Recht erhalten, zu beurteilen, ob diese Kompetenzen mit der Verfassungsordnung des betreffenden Staates vereinbar sind.

Es gibt auch Vorschläge für eine stärkere direkte Beteiligung der „europäischen“ Bürger an Entscheidungsprozessen. So wird z.B. die Möglichkeit eingeführt, europaweite Volksabstimmungen zu organisieren, wodurch staatliche Entscheidungen umgangen werden können. Es gibt Vorschläge, die Namen der Institutionen ("Exekutivkommission") und ihrer Vertreter zu ändern (z.B. ist von einem "Präsidenten der Europäischen Union" oder einem "EU-Außenminister" die Rede), die Zahl der Kommissare zu verringern, die Art der Abstimmung im Rat zu ändern (auch in außenpolitischen Fragen), dem Parlament die Gesetzesinitiative zu übertragen. Eine bahnbrechende Veränderung wäre auch die Möglichkeit den Kauf und die Entwicklung von Rüstungsgütern von der EU zu finanzieren, sowie ständige militärische Einheiten unter direktem EU-Kommando zu schaffen.

Diese und andere Vorschläge führen zu einer radikalen Umgestaltung der Union, die von einem Staatenbund zu einer unabhängigen politischen Einheit mit eigener Legitimität, eigenen Finanzen, eigener Armee, eigener Außenpolitik usw. werden sollte. Eine solche Union würde bedeuten, dass die souveränen Mitgliedstaaten abgeschafft und auf die Rolle von Selbstverwaltungseinheiten oder Bundesländer oder - im besten Fall – „states“, wie in der USA, reduziert würden. Wir wissen nicht, wann der AFCO-Ausschuss seine Arbeit abschließen und seine Vorschläge offiziell vorlegen wird und wann diese Vorschläge im Europäischen Parlament mit der verbindlichen Aufforderung zur Einberufung eines Konvents zur Abstimmung gestellt werden.

Doch selbst wenn ein Konvent einberufen würde und Änderungen der Verträge beschlossen würden, ist es unwahrscheinlich, dass sie alle in einer so radikalen Form angenommen würden, wie es vom AFCO-Ausschuss vorgeschlagen wird. Dennoch spiegeln diese Vorschläge die Tendenzen wider, die in dieser Wahlperiode im Europäischen Parlament sowie in Teilen der europäischen Elite und der so genannten Zivilgesellschaft zu beobachten sind.

Der Krieg in der Ukraine, die zunehmend angespannte internationale Lage und das wachsende Gefühl der Unsicherheit werden genutzt, um eine günstige Atmosphäre für weitere Zentralisierungsschritte zu schaffen. Wer die Union als Staatenverbund und die bisherigen Staaten als politische Organisationsform in Europa erhalten will, sollte daher nicht nur die Verträge verteidigen, sondern auch eigene Vorschläge zur Klarstellung einiger ihrer Bestimmungen formulieren, um die schleichende Zentralisierung der Union zu verhindern. Sie sollten eine alternative, positive Vision von der Zukunft Europas und der Zusammenarbeit zwischen freien Nationen vorlegen.

 

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