Von Warschau aus gesehen, von Brüssel aus gesehen: "Zeitenwende" auf Polnisch oder wie man Fakten unverschämt verdrehen kann
Jahrelang betrieb die deutsche Regierung, trotz der brutalen Kriege in Tschetschenien, Georgien, Syrien und in der Ukraine, trotz aller Morde, deren das Putin-Regime sich schuldig machte, eine Politik der Annäherung an Russland.
Erst jetzt werden in Deutschland kritische Beschreibungen und Analysen dieser Politik veröffentlicht, was ein schlechtes Licht auf die Freiheit und Unabhängigkeit der deutschen Medien und der deutschen Universitäten wirft. Erst jetzt wird der erschreckende moralische Zustand der deutschen Eliten und ihre tiefe Durchdringung durch die Russen aufgedeckt. Kein Wunder, dass die deutschen Politiker lange brauchten, um angemessen zu reagieren als Russland am 24. Februar 2022 einen groß angelegten Krieg gegen die Ukraine begann. Und das, obwohl die Partei "Die Grünen", die Russland immer realistisch kritisch gegenüberstand und am wenigsten unter dessen Einfluss stand, in der Regierungskoalition vertreten ist. Nach einer Reihe von leeren Gesten, die von der europäischen Öffentlichkeit belächelt wurden, kündigte Olaf Scholz im Januar dieses Jahres die so genannte 'Zeitenwende' an. Es dauerte jedoch noch lange, bis die deutsche Regierung beschloss, ihre Wunschträume und Hoffnungen in Bezug auf Russland aufzugeben und die Ukraine entschiedener zu unterstützen.
Es ist anzumerken, dass die Ankündigung der neuen Epoche, in der die alten Regeln nicht mehr gelten, passt wunderbar zur Tradition der deutschen Politik. Nach dem Untergang des Dritten Reiches wurde die sogenannte „Stunde Null“ proklamiert und seit jenem Zeitpunkt wusste jeder Deutsche, dass der Hitlergruß nicht mehr angebracht war. Es galten neue Regeln und man musste sich an die Verordnungen der Besatzungsmächte eifrig anpassen. Die Ankündigung der „Stunde Null“ war jedoch nicht gleichbedeutend mit dem Ende der alten Einrichtungen und gesellschaftlichen Strukturen, viele von denen weiterexistieren konnten. Viele Beamte und Funktionäre aus der Zeit des Nationalsozialismus mussten nicht einmal ihre Karriere nicht unterbrechen. Die magische Phrase „Stunde Null“ erlaubte diese Kontinuität zu verbergen.
Etwas Ähnliches geschah nach dem Zusammenbruch der Deutschen Demokratischen Republik. Auch damals sprach man zunächst von einer unerwarteten Wende. Tatsächlich waren die damaligen Ereignisse unerwartet, überraschend und oft unerwünscht für die meisten Bürger der DDR. Plötzlich änderte sich der Lauf der Geschichte und man musste sich darauf einstellen. An die Stelle von Erich Honecker und Egon Krenz trat Helmut Kohl mit der Bundesrepublik Deutschland.
Erst später kam man auf die Idee, diese „Wende“ als eine „friedliche Revolution“ zu beschreiben, obwohl vorher die Opposition in der DDR nahezu inexistent war. Die meisten DDR-Bürger blieben bis zum Ende regimetreu. Die Revolution bestand vor allem darin, dass man aus der DDR ausreiste oder flüchtete, und zwar in einer Zeit, wo der Kommunismus in Ostmitteleuropa bereits zusammenbrach. Die nachträgliche Proklamation einer 'friedlichen Revolution' ermöglichte es den Deutschen, das Stigma der Konformität abzulegen und sich des Komplexes zu entledigen, in ihrer Geschichte keine nationale Revolution erlebt zu haben.
Die „friedliche Revolution“ hinderte sie aber nicht daran, Sympathie für ihren ehemaligen „Besatzer“ weiterzuempfinden. Als die beiden Kammern des deutschen Parlaments Putin bejubelten, niemanden störte die Tatsache, dass dieser Mann ehemals in der DDR als KGB-Spion aktiv gewesen war. Niemand zeigte sich empört darüber, dass der Vorsitzende der SPD und langjähriger Ministerpräsident von Brandenburg sein Engagement für eine „Versöhnung“ mit Russland damit erklärte, dass er als Jugendlicher mit russischen Soldaten befreundet war, und dies trotz zahlreicher grausamer Gewaltakte, die die Rote Armee am Ende des Zweiten Weltkriegs gegen die deutsche Zivilbevölkerung beging, darunter viele Vergewaltigungen deutscher Frauen - und trotz der bis 1989 andauernden Besatzung von Ostdeutschland. Es hat niemanden gestört, dass Angela Merkel von Russland und seiner Sprache schwärmte und die Despotin Katharina I. bewunderte.
Die Verkündung der "Zeitenwende" erfüllt dieselben Funktionen - die Verantwortung loswerden, die Hände in Unschuld waschen. Ein erfolgreiches Verfahren, denn keiner der aktiven Politiker zahlte den Preis für die Unterstützung Putins - nicht Frank-Walter Steinmeier, nicht einmal Manuela Schwesing, die in einem echtem Rechtsstaat unter die Lupe der Staatsanwaltschaft genommen werden sollte. Und Gerhard Schröder ist immer noch Mitglied der SPD...
Olaf Scholz tut jedoch nicht so, als sei er nicht Vizekanzler und Minister in Regierungen gewesen, die eine pro-russische Politik betrieben haben. Gleiches gilt für Frank-Walter Steinmeier. Es war eine andere Zeit, also haben sie sich auch anders verhalten. Jetzt haben sie die Vergangenheit, vor allem ihre eigene, mit einem sehr dicken Strich von der Gegenwart abgetrennt. Was sie in der vorherigen Ära gesagt und getan hatten, zählt nicht mehr - es war ja eine andere Zeit. Die Formel "Zeitenwende" verlangt von gesetzestreuen Bürgern, dies zu akzeptieren und nicht über die Vergangenheit zu streiten.
Donald Tusk wählte eine andere Methode, die darin besteht, die Schuld von sich selbst auf andere abzuwälzen. Er nimmt an, dass Angreifen und Leugnen die beste Verteidigung sind. So leugnet er oder verdreht die offensichtlichsten Fakten. Er versucht seine fanatischen Anhänger zu überzeugen, dass es keinen "Reset", keine Versöhnung und keine Einigung mit Putin gab und dass die PIS, die er einst der Russophobie bezichtigte, ein pro-russische Partei ist.
Er nimmt an, und vielleicht hat er damit sogar Recht, dass seine Wähler all seine Schuldzuweisungen gutheißen werden, egal, wie absurd sie sind. Dieses Ausnutzen von Unwissenheit, dieses Behandeln der Anhänger als eine blindgläubige Masse, zeigt seine tiefe Verachtung für sie. Das Schüren von Hass ist ein notwendiger Teil dieser Strategie, denn nur diejenigen, die vom Hass geblendet sind, können diese kontrafaktische Erzählung glauben.
Viele europäische Politiker, die ihn nur aus seiner Zeit in Brüssel kennen, als er sich als bescheidener und freundlicher Politiker präsentierte, der Juncker höflich sein Jackett reichte und leise Töne bevorzugte, wären sehr überrascht, wenn sie seinen Wahlkampf unvoreingenommen und aus der Nähe beobachten könnten. Aber die Polen wissen, dass er lediglich eine Strategie wiederholt, die ihn bereits an die Macht gebracht hatte - als er über Mohair-Barette[1] sprach, den Jugendlichen empfahl, ihren Großmüttern den Ausweis wegzunehmen, um sie am Wählen zu hindern, und so weiter. Es war diese Methode - der sogenannte 'Anti-PIS-Treibstoff' – die ihm erlaubte, lange an die Macht zu bleiben. Er vertauschte ständig die Bedeutungen und Rollen - er spaltete die Polen, beschuldigte jedoch seine politischen Gegner, dies zu tun, säte Hass, sprach über die Politik der Liebe...
Die damalige Kampagne der Verachtung und des Hasses gegen Präsident Lech Kaczyński führte zum Tod des Präsidenten und 95 weiterer Mitglieder der polnischen Elite. Das macht Tusks Politik der Versöhnung mit Russland politisch und moralisch völlig einzigartig - selbst im Vergleich zu deutschen, italienischen, französischen oder amerikanischen Politikern im Umfeld von Obama und Hilary Clinton. Dort gab es keine solchen Opfern dieser Politik.
Die mögliche Rückkehr von Donald Tusk auf den Sitz des polnischen Premierministers wäre deshalb so, als würde Neville Chamberlain mitten im Zweiten Weltkrieg an die Macht zurückkehren, sich als Churchill ausgeben und leugnen, dass das Münchner Abkommen jemals stattgefunden hat. Dass eine solche Rückkehr heute in Erwägung gezogen werden könnte, spricht fatal für die politische Urteilskraft eines großen Teils der polnischen Gesellschaft.
[1] Diese Kopfbedeckung wurde hauptsächlich von älteren Damen getragen. Für Donald Tusk war sie daher zu einem Symbol für die religiöse und unaufgeklärte Wählerschaft der Partei Recht und Gerechtigkeit geworden.
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Wie kann man so eine Frage überhaupt stellen? Schließlich erkennen wir den Grundsatz des Rechts der Völker auf Selbstbestimmung, auf Unabhängigkeit, auf die Bestimmung ihres eigenen Schicksals, auf eigene kollektive Entscheidungen an.
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