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Anti-Okzidentalismus oder die Rückkehr des Realismus?

2023-01-13
Zeit zum Lesen 10 min

Auszug aus der Rezension zum Buch von Bronisław Wildstein "Bunt i afirmacja" ("Revolte und Affirmation"), das in voller Länge in Przegląd Filozoficzny veröffentlicht wird.


Etwa zur gleichen Zeit, als die Bedrohung durch „illiberale Demokratie“ und Populismus für die fortschrittlichen Kräfte im „Westen“ zur Sorge wurde, endete in Polen, in der Dritten Republik, die Ära des „naiven Okzidentalismus“, der uns in den langen Jahren der "Transformation" begleitet hatte. Wie wir uns erinnern, sollte die polnische Transformation "ohne Experimente" ablaufen und darin bestehen, sich "in die Strukturen des Westens" zu integrieren. Dies sollte eine "Rückkehr nach Europa" sein, ein Eintritt in die Welt einer höheren, besseren Zivilisation, aus der wir gewaltsam herausgerissen wurden, weggerissen durch den Kommunismus. Wir wussten, welchen Weg wir einschlagen mussten, wie der Staat und die Wirtschaft organisiert werden sollten, auf welchen allgemeinen Prinzipien Polen sich stützen sollte. Es blieb nur eine nicht einfache Frage, wie dies zu erreichen sei - und die stellte sich als schwieriger heraus, als wir dachten. Und gerade um diese Frage drehten sich die wichtigsten politischen und ideologischen Auseinandersetzungen - die Nostalgie für die Volksrepublik war fast immer eine Randerscheinung und schwächte sich mit der Zeit immer mehr ab.

Das Maß für den Fortschritt unserer Transformation war die Anpassung an den Westen, die sich durch den Transfer von Institutionen und die Aufnahme liberaler Ideen vollzog. Das war weitgehend richtig, wenn man Russland und die Sowjetunion als das einzige konkurrierende zivilisatorische Angebot betrachtet. Dieser "Westen" aber war nicht so sehr eine Realität als vielmehr ein idealisiertes Bild oder ein abstraktes Modell. Zudem wurde der Binnendifferenzierung des Westens, seinen Problemen, Spaltungen und Konflikten keine Beachtung geschenkt. Er schien ein einfaches und unbestrittenes Vorbild zu sein. Und es ist schwer, in dieser Einstellung den Rückständigkeitskomplex zu übersehen, der die polnische kollektive Psyche mindestens seit dem Ende des 18. Jahrhunderts verzehrt.

Als charakteristisches Beispiel für solche Einstellung polnischer Intellektuellen gegenüber dem Westen während der Transformationszeit kann Jerzy Jedlickis Buch "Die entartete Welt. Die Kritiker der Moderne, ihre Ängste und Urteile" angesehen werden, das eine Fortsetzung oder einen Anhang zu seinem anderen, bekannten und wichtigen Buch "Jakiej cywilizacji Polacy potrzebują?" ("Welche Zivilisation brauchen die Polen?") darstellt. In diesem ersten Buch war es offensichtlich, dass was die Polen brauchten - und zwar dringend - die "westliche Zivilisation" war. Es bestand kein Zweifel daran, dass sie der geltende Standard war, während die polnischen Besonderheiten eine bedauerliche Abweichung vom vorherrschenden Muster darstellten. Was ist also von der Tatsache zu halten, dass es unter den Bewohnern der westlichen Zivilisation eine ganze Reihe prominenter Denker gab, die mit ihr nicht sehr glücklich waren? Gerade mit diesem Problem setzt sich der Verfasser in "Die entarteten Welt" auseinander, indem er eine Selbstkritik der westlichen Zivilisation als eine Reihe eigenartiger und nicht sehr nötigen Beschwerden ziemlich konsequent vorstellt.

Heutzutage gewinnen aber die Analysen der negativen kulturellen und sozialen Merkmale des "Westens" immer mehr an Resonanz in Polen. Sie erscheinen nicht in den postkommunistischen Kreisen, die mit der kommunistischen Nostalgie zur Volksrepublik nichts mehr zu tun haben, ihre Autoren sind auch oder vielleicht sogar vor allem prominente konservative Intellektuellen und Journalisten wie Agnieszka Kołakowska, Ryszard Legutko, Wojciech Roszkowski, Bronisław Wildstein, Andrzej Nowak, Antoni Libera. Sie befassen sich mit der Identitätskrise, dem ideologischen und moralischen Zustand der westlichen Gesellschaften.

Dieser Platztausch ist charakteristisch - früher war es die Linke, die den "faulen Westen" kritisierte, heute ist die Kritik an seiner Schwäche oder gar Dekadenz eine Domäne der Rechten. Die heutige polnische Linke ist - abgesehen von kleinen antikapitalistischen neomarxistischen Gruppen - dem "Westen" gegenüber eher positiv eingestellt. Es gibt keine eifrigeren "EU-freundlichen Europäer" als die ehemaligen polnischen Kommunisten, die sich in Liberale, Sozialdemokraten oder Christdemokraten verwandelt haben. Im Europäischen Parlament sind sie die enthusiastischsten Befürworter aller EU-Politiken. Die liberale Linke, auch diese, die sich als Christdemokraten tarnt, ist manchmal ein wenig zurückhaltender. Bei den Konservativen, aber auch in der breiteren polnischen Öffentlichkeit kommen es dagegen immer mehr Zweifel auf. Sie betreffen die Einwanderungspolitik, die Bedenken hervorruft, dass sie zur Zerstörung der europäischen Nationen und zum Import von Terror führt, und die Idee einer offenen Gesellschaft, die auch für eine große Anzahl von Neuankömmlingen mit völlig unterschiedlichem kulturellem Hintergrund offen sein soll, in Frage stellt. Auch die Klima- und Energiepolitik geben Anlass zu großer Sorge und Kontroverse. Die Idee der europäischen Integration selbst wird immer stärker kritisiert. Hinzuzufügen ist auch, dass dieser differenziertere Bezug zum Westen von einer "Nostalgie nach Kresy" begleitet wird. Die sentimentalen Reisen, die unternommen werden, erinnern an die Größe der Ersten Republik und an das Ethos der Zweiten Republik und ihre Modernisierungserfolge. Es tauchen Visionen auf von einer Wiedergeburt der ehemaligen Republik in einer neuen, modernen Form eines Zusammenschlusses der Nationen, die das Gebiet bewohnen.

In der letzten Zeit sind viele wichtige Bücher aus der Feder konservativer Autoren erschienen, die diesen Trend bestätigen. Dazu gehören Wojciech Roszkowskis "Roztrzaskane lustro" ("Zerschmetterter Spiegel") und Ryszard Legutkos "Triumf człowieka pospolitego" ("Triumph des einfachen Mannes"), das in einer leicht überarbeiteten Fassung in viele Sprachen übersetzt wurde. Es ist zweifellos eine der eindringlichsten Kritiken der zeitgenössischen liberalen Demokratie. Auch Legutkos neuestes Buch über den Begriff der Freiheit, das an sein "Traktat o wolności" ("Abhandlung über die Freiheit") anknüpft, kann in die Reihe solcher Veröffentlichungen eingeordnet werden. Erwähnenswert sind auch zwei Essaysammlungen von Agnieszka Kołakowska, "Plaga słowików" ("Nachtigall-Plage") und "Wojny kultur i inne wojny" ("Kulturkriege und andere Kriege"), die mit dem Andrzej-Kijowski-Preis ausgezeichnet wurden.

Alle diese Autoren sind sich einig, dass die ideologische Bedrohung nicht mehr aus dem "Osten" kommt, nicht aus Russland, das zwar weiterhin brutal, grausam und aggressiv ist, wie der Krieg in der Ukraine beweist, jeden geistigen und kulturellen Einfluss auf uns aber verloren hat, sondern aus dem "Westen". Selbst wenn der Postkommunismus, d.h. die immer noch spürbaren politischen, sozialen und kulturellen Folgen des Kommunismus, in Mittel- und Osteuropa ein Problem bleiben sollte, wird der Postmarxismus in Form der heutigen radikalen kulturellen Tendenzen als ein "westliches" Phänomen betrachtet. Und während liberale "westliche" Mainstream-Autoren die Geschichte über den Rückschritt der liberalen Demokratie in Mittel- und Osteuropa entwickeln, entdecken die Konservativen in Mittel- und Osteuropa in den heutigen kulturellen Trends im "Westen" das Nachleben des Marxismus und damit auch des Kommunismus.

Zu diesen beispielhaft erwähnten Veröffentlichungen kam 2020 das Buch "Bunt i afirmacja. Esej o naszych czasach" ("Revolte und Affirmation. Ein Essay über unsere Zeit") von Bronisław Wildstein hinzu, der umfassendste und ehrgeizigste Versuch, sich mit den intellektuellen Leistungen des modernen und zeitgenössischen "Westens" auseinanderzusetzen. Dieses Buch, wie auch die anderen oben erwähnten Bücher, vermittelt ein eher düsteres Bild vom geistigen Zustand des "Westens". Viele der Themen dieses Buches hat der Autor auch in seinen früheren Essaybänden sowie in seinen - immer noch unzureichend bekannten - literarischen Werken behandelt, die die Missstände der modernen Welt tiefgründig beschreiben. Nun hat er aber beschlossen, seine Ansichten zu systematisieren und auf die Ebene der philosophischen Reflexion zu übertragen, indem er sich auch auf die polnischen Erfahrungen bezieht.

"Revolte und Affirmation" enthält viele ausdrucksstarke Thesen und Urteile. Einige von ihnen mögen übertrieben, zu apodiktisch erscheinen, und zur Polemik anregen. Man kann davon ausgehen, dass bestimmte kulturelle Phänomene und intellektuelle Leistungen zu einseitig dargestellt werden, man kann sich über die Bewertung einzelner Denker streiten und der Meinung sein, dass ihre Ansichten zu schematisch wiedergegeben werden. Solche Anschuldigungen scheinen mir aber nicht gerechtfertigt zu sein. Es handelt sich hier nicht um ein wissenschaftliches Buch, sondern um einen Aufsatz mit einer großen philosophischen Ladung, der sich mit "Der Mensch in der Revolte" von Camus vergleichen lässt, von dem Wildstein übrigens seine Überlegungen ableitet. Leidenschaftlich geschrieben, der Text regt diejenigen zum Nachdenken an, die bereit und in der Lage sind, über die ausgetretenen Pfade des zeitgenössischen orthodoxen Denkens hinauszugehen. Wie immer packt Bronisław Wildstein "den Stier bei den Hörnern" und stellt grundlegende Fragen, vor denen die akademische Philosophie oft davonläuft. Es geht ihm nicht um interpretatorische Nuancen, sondern um den Kern der Sache, um die Beschreibung der Tendenzen der Zeit und die Erfassung der Ursache dessen, was der Verfasser als eine besorgniserregende Krise, wenn auch nicht unbedingt als die Dämmerung des "Westens", ansieht. Der Autor lehnt die "westliche Zivilisation" als solche nicht ab, und wenn er die Missstände der modernen Zivilisation analysiert, dann behauptet er nicht, dass es sich hier um eine genetische oder unheilbare Krankheit handelt. Er ist kein "Spenglerist" - und es muss hinzugefügt werden, dass Spengler in den konservativen Kreisen in Europa wieder in Mode gekommen ist. Wenn Bronisław Wildstein über die negativen Phänomene in der zeitgenössischen westlichen Kultur schreibt, bemerkt er: "ihre Dekadenz, die vor allem im Zusammenbruch des inneren Gleichgewichts, in der hyperbolischen Entwicklung einiger ihrer Merkmale wie Individualismus oder Materialismus auf Kosten anderer besteht, kann zum Verdorren und zur Krise führen bzw. führt bereits dazu. Dennoch hat der bisherige Erfolg des Westens die Welt für die für uns absehbare Zukunft dauerhaft geprägt. Wir sind zwar in der Lage, auf die radikale Evolution ihrer Grundnormen in den letzten paar hundert Jahren hinzuweisen, dieser Prozess kann aber als ein wachsendes inneres Ungleichgewicht und, in einigen Aspekten, sogar als selbstmörderische Tendenzen, wahrgenommen werden."

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